Seit über 31 Jahren sind Schreibkurse ein fixer Teil des SOAK-Programms. Die darin entstandenen Texte, sei es Lyrik oder Prosa, begeistern bei den wöchentlichen Finissagen das sommerakademische Publikum. Um zu verhindern, dass diese an purer Schreibfreude entstandenen Texte nach ihrer sommerlichen Entstehung nicht unzugänglich in den diversen Schubladen verschwinden, haben wir ab der Saison 2013 die Teilnehmer·innen gebeten, uns – so gewünscht – Beiträge zur Veröffentlichung zur Verfügung zu stellen.
Wir weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass alle Texte urheberrechtlich geschützt sind und ohne ausdrückliche schriftliche Autorenzustimmung nicht bearbeitet, vervielfältigt, weiter veröffentlicht oder sonst im Sinne des UrhG verwertet werden dürfen. Sie sind ausschließlich für den privaten Lesegenuss gedacht.
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ANTONIO FIAN
MAI/JUNI 2024:
Des Kladl
von Susanne Pelzlbauer
Ort: Speisesaal einer Kuranstalt
4 Frauen mittleren Alters sitzen am Tisch und essen Suppe
1. Frau
I hob heit im Shop a Kladl gsegn des ma gfoit.
Die anderen Frauen löffeln weiter schweigend ihre Suppe
1. Frau
Des Kladl is orange. I wass oba net, ob’s ma passt. I hob so an großen Busen und dick bin i a. I woilt no vua da Kur obnehman. Is oba nix wuarn.
Kurzes Schweigen
2. Frau
Hast du das Kleid nicht probiert?
1. Frau
Na, i hob mi net traut. I wüll erst ohnehman.
Wieder Schweigen
2. Frau
Orange passt dir sicher
4. Frau
Steht auf und geht zum Salatbuffet
1. Frau:
Jo, vielleicht soit i’s probiern.
Vielleicht moch i des.
Der Kellner serviert den Hauptgang
Alle 4 Frauen widmen sich schweigend ihrem Essen. Das Geschirr klappert.
1. Frau
Blickt auf und sieht plötzlich eine äußerst dicke Frau in einem orangen Leinenkleid vorbeigehen.
1. Frau schreit:
Des derf net woar sein, die Gfüllte hot mei Kladl an.
De is jo no vüll blader als i.
Unschlüssiges Schweigen.
Der Kellner serviert den Nachtisch.
Die Babys
von Susanne Pelzlbauer
Ort: Öffentliche Grünanlage
Zwei Babys werden von ihren Müttern in ihren Kinderwägen durch die Anlage geschoben
Baby 1 zu Baby2
Wie geht es dir so? Wo bist du diesmal gelandet?
Baby 2
Ich bin soweit zufrieden. Die Eltern sind bemüht, noch neu im Job, gehen aber auf jeden meiner Hinweise, also mein Schreien, laut oder leise, je nach Anlass variierbar, durchaus ein.
Die Ernährung der Mutter ist vegan. Die Milch schmeckt dadurch leider etwas fad. Ich hatte aber schon schlimmere Destinationen.
Wie läufts bei dir?
Baby 1 seufzt:
Ich muss Grundlagenarbeit leisten. Es gibt zwar einen älteren Bruder, der hat das Elternpaar aber durch übertriebene Anpassung leider unmäßig verwöhnt.
Das hat mich einiges an Nachtarbeit gekostet. Das stündliche Schreien war für mich ja auch kein Spaß.
Nach einigen Nächten war die elterliche Reaktionszeit passabel und ich konnte zu einem mehrstündigen Rhythmus übergehen.
Baby 2
Ja, wie Paul Watzlawick bereits sagte:
Man kann in der Wahl seiner Eltern nicht vorsichtig genug sein.
(Der) Zahnstocher
von Susanne Pelzlbauer
Ein Mann und eine Frau sitzen in einem Lokal beim Essen.
Nach dem Essen winkt die Frau dem Kellner und sagt:
Herr Ober, bitte einen Zahnstocher
Zu Ihrem Begleiter:
Es gab einmal Zeiten, in denen auf jedem Tisch Zahnstocher gestanden sind.
Er: sehnsüchtig:
Ja und sogar ohne einzeln verpackt zu sein.
Beide versinken in einvernehmlichem Schweigen
Sie:
Manchmal habe ich das Gefühl, dass es leichter ist an Drogen heranzukommen, als an einen Zahnstocher. Wieso sind Zahnstocher derart in Ungnade gefallen?
Er nickt. Nachdenkliches Schweigen
Er:
Ich nehme auch einen Zahnstocher, wenn der Kellner welche bringt.
Wieder Schweigen
Kellner kommt und stellt unter den erwartungsvollen Blicken der beiden einen Teller mit einem eingepackten Zahnstocher auf den Tisch.
Die Klimschgossn
von Susanne Pelzlbauer
Kleines Tschocherl bzw. Cafe im dritten Wiener Gemeindebezirk
Ein Mann und eine Frau mittleren Alters sitzen an einem kleinen, runden Tisch vor dem Lokal. Vor sich zwei weisse Spritzer. Die Kirchturmuhr zeigt 11 Uhr vormittags.
Er:
I geh heit in die Klimschgossn. I wear gröntgt.
Sie:
In die Klümschgossn?
Er:
Na, in die Klimschgossn
Sie:
Sog i jo
Kurze Pause
Er:
De Klimschgossn is do glei ums Eck, dann grod und wieder links
Sie:
Na, zur Klümschgossn muasst zwa Gossn weida gehen, dann rechts und dann erst links. Des is de Klümschgossn.
Er:
I wüll oba in die Klimgossn und mia is gsogt wurn, glei ums Eck,donn grod und links
Sie:
Sog i jo, zwa Gossn weida, rechts und links. Des findst sicher. Durt is de Klümschgossn.
Kurze Pause
Er:
Vielleicht geh i erst murgn
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ANTONIO FIAN
MAI/JUNI 2023:
Wokey
von Gaby Stipsits
Zwei Frauen im Eiscafé.
Vor der einen steht eine Tasse Tee, vor der anderen ein großer Eisbecher.
Zweite Frau: „Neue Uhr?“ – Deutet auf ein würfelförmiges Gerät am Handgelenk der anderen.
Erste Frau: „Das ist keine Uhr. Das ist Wokey.“
Zweite Frau: „Wokey? Und was kann das?“
Erste Frau: „Wokey verfügt über ein Mikrofon und einen Barcode-Scanner. Wenn ich etwas sage, das nicht politisch korrekt ist, teilt er mir das mit. Was ich kaufe, scanne ich, damit ich nicht etwas erwerbe, das dem Klima Schaden zufügt, oder etwas Ungesundes esse. Und so weiter.“
Zweite Frau: „Und wie teilt Wokey dir mit, wenn du etwas falsch machst?“
Erste Frau: „Hätte ich zum Beispiel beim Kellner ….“ ihr Körper zuckt konvulsivisch „… einen Eisbecher bestellt …“ erneuter Krampfanfall „… siehst du?“ atemlos „Es funktioniert. Er gibt mir Stromschläge, damit ich lerne.“
Zweite Frau: „Und was war an ,Kellner’ falsch?“
Erste Frau: „Ich habe nicht gegendert.“
Zweite Frau: „Aber dieser Kellner ist doch ein Mann?“
Erste Frau: „Wissen wir das sicher? Er/sie könnte nur so aussehen, oder auch eine nicht binäre Person sein.“
Zweite Frau: „Tun denn diese Stromschläge nicht weh?“
Erste Frau: „Doch. Sehr. Aber das muss so sein. Mit jedem Stromschlag werde ich besser. Der Weg zu einem allumfassenden, wachen Bewusstsein ist eben steinig.“
Sie lächelt entrückt
Im Zwergenreich
von Elisabeth Hassek-Eder
Eine Lichtung im Zwergenwald an einem sommerlichen Nachmittag. Im Stamm einer alten Eiche die Waldschänke. Davor – einander gegenüber sitzend – an einem Holztisch zwei Zwerge, jeder einen Krug Wurzelbier vor sich.
Erster Zwerg:
Ich sag dir jetzt eines, der Wald ist schon voll.
Hier brauchen wir nicht einen einzigen Troll.
Warum nur bleibt nicht alles gleich
in unsrem schönen Zwergenreich?
Zweiter Zwerg:
Bald wimmelt’s nur so vor migrierenden Trollen,
sie werden uns alle sehr rasch überrollen
und machen sich’s danach nur allzu bequem
in unserem feinen sozialen System.
Erster Zwerg:
Versteh mich nicht falsch, ich sag das nur dir:
Sie sind halt tatsächlich sehr anders als wir.
Es ist doch mit Trollen schon immer das gleiche,
so gar kein Respekt vor der stattlichen Eiche!
Olivenbaumkult und verstörende Sitten,
das möchten wir Zwerge uns wirklich verbitten!
Wenn immer mehr Trolle hierher zu uns wandern,
dann bleibt bald im Wald wohl kein Stein auf dem andern.
Zweiter Zwerg:
Mein Gott, bei dem Bild da vergeht mir die Laune –
womöglich erscheinen als nächstes die Faune
und lassen sich auch noch ganz froh bei uns nieder.
Wie die alle sind, hört man eh immer wieder.
Es ist diesen Wesen so gar nicht zu trau’n,
wie heißt’s ganz richtig? „Korrupt wie ein Faun.“
Erster Zwerg:
Fehlt nur noch, dass auch diese flattrigen Elfen
behaupten, wir sollten doch ihnen jetzt helfen.
Stille – Kopfschütteln
Zweiter Zwerg:
Die Gutzwerge reden von Integration.
Erster Zwerg:
Ach, hört’s ma doch auf, was ham wir denn davon?
Zweiter Zwerg:
Sie sagen, der Wald ist noch lang nicht zu voll.
Sehr bald braucht es jeden verfügbaren Troll,
denn angeblich gibt’s einen Fachzwergemangel.
Erster Zwerg:
Geh Blödsinn! – Um einige Jobs herrscht Gerangel,
für anderes wie für die Altzwergenpflege
da gibt es doch sicher noch bessere Wege.
Wir holen uns Heinzelmännchen im Osten,
das ist so bequem und kann nicht viel kosten.
Zweiter Zwerg:
Genau! Und zu unsrem besonderen Glück
fahr’n die nach der Arbeit auch wieder zurück!
Stille
Zweiter Zwerg:
Ach, schwierige Zeiten im Zwergenreich,
die Zwergenregierung ist einfach zu weich!
Erster Zwerg:
Es stimmt ja, die Zeiten sind wirklich nicht gut.
Aber du, es gibt einen, der macht mir schon Mut.
Unser Zwergenanführer ist doch ein Stratege,
vertrau mir, der findet schon Mittel und Wege!
Mit seinem beachtlichen Zwergenhirn
bietet er Troll und auch Faun die Stirn.
Zweiter Zwerg:
… und träumenden Gutzwergen obendrein!
Hast recht, ja, es muss uns nicht bange sein!
Sie werfen ein paar Stückchen Moos auf den Tisch, stehen auf und gehen stramm nach rechts ab.
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ANTONIO FIAN
JUNI 2022:
Zwischenfall
von Verena Brückner
Mr. Spock: Wir landen in Kürze
Maria Theresia: Wo
Mr. Spock: Auf der Landeplattform der EVN
Maria Theresia: Gut, dann werden wir mal klarstellen, wer hier die Energie regiert
Sie wollen landen.
Bei der Landung verfängt sich das Fluggefährt in einer Hochspannungsleitung.
Das Fluggefährt kippt, landet schräg.
Maria Theresia: Oi oi oi, mein Bauch!
Mr. Spock: Was ist damit?
Maria Theresia: Oh oh ahh, ich glaub, es kommt!
Mr Spock: Aber Majestät, das ist jetzt aber sehr ungünstig. Wartens noch a bissal, ich hol
Verstärkung
– Hievt sich aus dem Fluggefährt und lässt Maria Theresia alleine zurück.
Maria Theresia: AH AH AHHHHH
15 Min später. Mr. Spock kommt zurück. Die Verstärkung: eine Stromarbeiterin und ein
Rauchfangkehrer.
Aus dem Fluggefährt vernehmbares Schreien eines frisch geborenen Säuglings.
Rauchfangkehrer: Mir scheint, wir kommen zu spät.
Stromarbeiterin: Na servas, wie seid sn ihr glandet? Ihr habt s ja die ganze Energieleitung
unterbrochen.
Mr. Spock: Mit Verlaub, sonst sitzen da immer Spatzen auf der Leitung, damit man sie besser
sehen kann.
Kurz darauf im Fluggefährt.
Rauchfangkehrer: Ma siaß, die klanen Fussaln, na und die spitzen Ohrlis!
Stromarbeiterin: und wie gehts jetzt weiter?
Mr. Spock: Die Frau Majestät wird sicher hungrig sein.
Stromarbeiterin: Na so könnt s aber nirgends hinfliegen.
Rauchfangkehrer: Du denkst immer a bissl zu metapraktisch. Bestell ma einfach eine Pizza:
Mr. Spock funkt ein Pizzaservice an.
Mr. Spock: Eine Pizza zur EVN
Rauchfangkehrer: Zwei!
Stromarbeiterin: Drei!
Mr. Spock: Bitte 5 Pizzen zur EVN
Stromarbieterin: Warum jetzt 5?
Mr. Spock: wir sind ja 5
Säugling schreit.
Sparmaßnahmen
von Verena Göltl
Setup: Auf einer Chaiselongue, mittig platziert, thront Katze Francesca. Zu ihren Füßen liegt Golden Retriever Herr Walter.
F: Sagen Sie, Herr Walter, warum gehen Sie eigentlich kaum mehr vor die Tür?
HW: Ach, Gnädigste, wenn Sie wüssten.
F: Wenn ich wüsste, bräuchat ich ja nicht fragen. Also – warum?
HW: Ich fürchte, Sie müssen sich auf das Schlimmste gefasst machen, Gnädigste.
F seufzt: Herr Walter, jetzt hören Sie schon auf mit dem Herumdrucksen, raus mit der Sprache! Wo drückt der Schuh, wenn Sie überhaupt einen haben …
HW: Nun, wenn Gnädigste darauf bestehen … Ich hätte Ihnen das ja gern erspart, aber bitte. Nun ja, die Lage ist ernst.
F: Na geh! Was ist denn? Doch wohl kein Schweinsohrenembargo oder goa eine Kuttelkrise?
HW: Gnädigste machen sich lustig. Aber die Lage ist ernst. Bitterernst. Mit Verlaub, ich fürchte, wir müssen sparen.
STILLE
F: Wer?
HW: Nun ja, wir alle. Es gibt eine Weltwirtschaftskrise. Die Inflation ist abnormal hoch, jede ordinäre Sardinendose kostet ein Vermögen heutzutage – na und vom Fleisch, vom Fleisch will ich gar nicht erst ….
F unterbricht: Mo-ment! Herr Walter, mäßigen Sie sich! Das ist ja die reine Lamentierlust, die Sie da vollführen. Das steht Ihnen nicht. Erzählen Sie mir lieber endlich, warum Sie nur mehr so selten außer Haus gehen!
HW: Nun ja, Gnädigste, wie soll ich sagen – es ist mir schon sehr unangenehm vor Ihnen, wo Sie doch so kultiviert …
F faucht: Walter!
HW: Ja, ja, verzeihen Sie, Gnädigste, also ich geh’ nimma außer Haus, weil ich dem Herrl sparen helfe. Damit er weniger Sorgen hat, verrichte ich mein Geschäft – Verzeihung – nur mehr ein Mal am Tag. Das spart Sackerl und CO₂. Und weil ich mich weniger bewege, verbrauche ich weniger Kalorien und somit weniger Futterdosen. – Sie verstehen?
STILLE
F wendet sich ab, gähnt: Ob’s heut’ z’Mittag wieder diese Lachspaté gibt?
Zettelspiel „Textüberraschung“
Jeder schreibt ein, zwei Sätze dazu – kennt aber nur den Beitrag davor
Autoren:
Alex, Annemarie, Antonio, Florian, Michael, Verena & Verena
Der erste Textbeitrag diesmal als Vorgabe
—
Ein Schlossgemach. Schwerter und Schilde an den Wänden. Ein Mann in Badehose stürzt herein.
—
Der Mann schreit: „Wo ist mein Knappe? Wo ist meine Ritterrüstung? Nichts ist auf seinem Platz!“
—
Putzfrau Elfi erscheint: „Kuniberti, beruhigen Sie sich Ihnen! Ich komm schon. Was brauch ma denn?“
—
Können’s ma das Riechfläschchen meiner Gemahlin bringen bitte, und einen Liter Met-Wein. Und die Axt!
—
„Darf es sonst noch was sein, mein Gebieter? Vielleicht wie üblich die Peitsche und das Penis-Monokel?“
—
„Die Peitsche reicht.“ Man reicht ihm die Peitsche. „Du unverfrorener Nichtsnutz!“ schreit der Gebieter und peitscht den Diener aus.
—
Schluchzend stürzt er zu Boden und fleht um Gnade.
—
Aber es gibt keine Gnade. Das Schwert saust herab, sein Kopf fällt und wird sofort von den Katzen gefressen.
—
Zettelspiel „Textüberraschung“
Jeder schreibt ein, zwei Sätze dazu – kennt aber nur den Beitrag davor
Autoren:
Alex, Annemarie, Antonio, Florian, Michael, Verena & Verena
—
Am Flohmarkt vor dem Domina-Laden werden die besten Stücke feil geboten. Renate:
—
„Bitte Gustav, schau dir diesen roten Lederstrapsgürtel an, die Silbernieten, einfach genial!“
—
Gustav: „Und wann willst sowas anziehen? Im Kindergarten?“
—
Sie: „Ich finde das voll originell, quasi salonfähig!“
—
Sie packen ihre Sachen, steigen ins Auto und fahren zum Swingerclub.
—
Die Straße ist total verstopft. „Dass immer alle Menschen die selbe Idee haben müssen“, seufzt er.
—
Völlig entnervt setzt er sich hin und macht seine Yogaübungen, um sich zu beruhigen.
—
Handgepäck
von Alexander Eder
Flughafen Zakynthos, beim Handgepäck-Schalter.
Der Sicherheitsbeamte: „Please, can you open your bag?“
Eine braun gebrannte Urlauberin, noch immer im sommerlichen Strandkleid, etwas verdutzt: „Why? I have nur Souvenirs inside!“
Der Sicherheitsbeamte etwas schroff: „Please open it! What is inside?“
Die Urlauberin: „I have only eine kleine Turtle, I found a knife und a little gun for my Enkelkind!“
Der Sicherheitsbeamte hebt die Augenbrauen: „Open your bag!“
Die Urlauberin zieht langsam den Zipp der Tasche auf. Zum Vorschein kommen lauter Steine. „Look, the turtle, the knife and the gun! Okay, it could also be an airplane.“
Der Sicherheitsbeamte kann sich ein Schmunzeln nicht verkneifen. „Would you like to take our island home with you? You know, normally it’s forbidden!“ Er zwinkert ihr zu und winkt die Urlauberin weiter.
Aufgabe: Verfassen eines Minidramas, in dem folgende Figuren vorkommen müssen: Galileo Galilei; Koch/Köchin, Postbeamter/-beamtin, Astronaut/Astronautin; Mann oder Frau im Mond. Eine Figur darf weggelassen werden.)
Frauen am Mond
von Doris Neidl
Postamt. Dresdnerstasse. 20ster Gemeindebezirk, Wien
Zwei Männer und eine Frau warten vor dem Schalter.
Postbote: Der Nächste.
1. Mann: Grüß Gott, ich habe eine Benachrichtigung erhalten, dass mein eingeschriebener Brief schon wieder zurückgeschickt wurde.
Postbote: Name?
Mann: Galileo di Vincenzo Donaiuti de Galilei.
Postbote mustert kurz Galileo und geht weg, um den Brief zu holen. Er kommt zurück und übergibt den Brief.
P: Unzustellbar. Adresse ungültig. Nächster.
G: Was soll das heißen, “unzustellbar”? Die Adresse stimmt sicher.
Postbote nimmt den Brief und liest:
P: Frau im Mond. Milchstraße 30. 4036 Mond. Wollen Sie mich verarschen?
G: Warum sollte ich das tun wollen? Ich habe keinen Grund, Sie zu ärgern. Ich habe die Frau im Mond entdeckt und jetzt will ich sie erforschen. Sie ist sehr schwierig zu verstehen, aber ich glaube, ich liebe sie. Sie ist der Mittelpunkt meines Lebens.
P (spottend): Sie hat Ihnen aber die falsche Adresse gegeben und will offensichtlich nichts mit Ihnen zu tun haben. Und jetzt verschwinden Sie.
G: Was fällt Ihnen ein!
P (genervt): Vergessen Sie diese Frau im Mond. Frauen, die entdeckt werden wollen, sind es nicht wert entdeckt zu werden. Überarbeiten Sie Ihr heliozentrisches Weltbild, nicht alles dreht sich um die Frauen. Wie Sie ja wissen, gibt es andere Monde.
G (sehr erfreut): Oh, endlich jemand, der sich in der Wissenschaft auskennt.
P (wütend): Auskennt? Ich bin Physiker. Ich suche seit Jahren einen Job als Astronaut. Aber die Idioten beim AMS haben mir den Job bei der Post gefunden. Und jetzt muss ich mich mit Idioten wie Ihnen herumschlagen.
2. Mann: Zweite Kassa bitte.
Postbote/ Galileo (gleichzeitig): Wir sind nicht beim Billa.
2. Mann: Dann beeilen Sie sich gfälligst. I bin Koch und muass hackeln. Ich hob ka Zeit, wie Sie, die Herrn Wissenschaftler, über Frauen am Mond zu diskutieren. Ich wär maunchmoi froh, woann i mei Frau aufischießn kinnt. In zehn Minuten muass i in da Arbeit sei. Also Beeilung.
Alte Dame hinter dem Koch: Also wirklich, kein Wunder, dass die jungen Frauen heutzutage alleine leben. Bei Männern wie Ihnen würde es mir auch vergehen. Mein Juri war da ganz anders.
Postbote/ Galileo/ Koch gleichzeitig: Welcher Juri?
Dame: Na, mein Mann, der Gagarin. Gott hab ihn selig. Er war halt noch ein wahrer Gentleman.
Postbote beginnt bitterlich zu weinen.
Vorhang.
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ANA ZNIDAR
JULI 2022:
Egoismus
von Alex
Er trat an sie heran, ohne ihr in der hellen Vormittagssonne einen Schatten zu machen:
Er: „Meditierst du?“
Sie: „ Ja.“
Sie öffnete die Augen und die Sonne war in etwa so grell wie der Mann, der sie gerade unterbrochen hatte. Das war so, als würde man eine Schlafende fragen, ob sie schläft.
Er: „Wegen der Inspiration und so, oder?“
Es war ihr klar, dass er jetzt nicht so schnell wieder weggehen würde und sie fragte sich zum unzähligsten Mal, wie ihre Schwester diesen Holzklotz hatte heiraten können.
Sie: „Ja, ich arbeite an einem Bild und für den nicht konzeptionellen Teil funktioniert für mich das Imaginieren so recht gut“ sagte sie mehr zu sich selbst, „also normalerweise, wenn ich genügend Zeit und Ruhe habe. Und einen friedlichen Platz, so wie hier.“
Er: „Aha“, sagte er banal und machte sich nicht die Mühe, einen halben Meter vor sie zu treten, damit sie nicht direkt in die Sonne schauen musste. Mit seiner hohen, etwas knarrigen Stimme fuhr er fort.
Er: „Also für mich ist das ja nichts. Also das Meditieren und so. Ich hab’s mal probiert auf Youtube. Aber … da passiert ja nix. Und man macht ja auch nix.“
Sie ließ ein tiefes OM durch ihre Chakren gleiten und stellte sich zusätzlich eine schützende Lichtglocke vor, an der seine Worte herabglitten wie Schnee an einer warmen Fensterscheibe.
Sie: „Also mir tuts gut, ist ein Teil meiner Selbstfürsorge.“
Er (lacht): „Ja, genau, das hat die eine bei Youtube auch gesagt. Selbstfürsorge. Und Selbstliebe …. Also wenn du mich fragst, ist das alles purer Egoismus. Dreht sich ja alles immer nur um einen selber.“
© Alex
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ERICA FISCHER
SEPTEMBER 2018:
Auf den Strumpf geklebt …
von Gesche Gaudszuhn
Als Anregung: Gedicht von Margret Kreidl
Sie lächelt sie öffnet den Mantel
Auf der linken Seite
Und deutet auf die Stelle
Wo sie ein kleines ausgeschnittenes Bild
Auf den Strumpf geklebt hat.
Wir seufzen.
„Die Stelle, wo sie ein kleines ausgeschnittenes Bild auf den Strumpf geklebt hat.“
Erst hat sie überlegt, ob sie ins Tattoo-Studio gehen sollte. Allen Mut zusammennehmen und die Nadel auf der Haut zulassen. Manche Tattoos gefallen ihr gut. Aber sie muss bei Tattoos immer daran denken, wie das Bild auf der Haut in dreißig Jahren aussehen wird. Wenn die Haut faltiger ist und das Bild ganz verschrumpelt, so dass man immer lange Hosen und Röcke trägt, um die tätowierte Stelle möglichst zu verdecken. Um sich nicht den spöttischen Blicken anderer Menschen auszuliefern. Aber wer weiß; vielleicht lästern gerade diejenigen besonders laut über alte Tattoos, die selbst falsche japanische Schriftzeichen auf dem Rücken eingraviert bekommen haben: „Fischmaul“ statt Mut und Gelassenheit.
Dann doch lieber ein kleines Bild auf dem Strumpf, das sie nach Belieben wechseln kann. Wie Daumenkino auf der Haut; jeden Tag neu, wenn sie es so will. Sie ist jedes Mal neugierig, was mit dem Bild passiert; wie lange es wohl hält, bis die Strumpfhose reißt. Ob das Bild einfach abfällt, weil der Kleber nicht gut gehalten hat, oder ob es entzweireißt wegen einer Laufmasche, die sich durch das Bild ziehen wird. Oder ob das Motiv sich langsam abreibt, weil sie die Beine zu oft übereinandergeschlagen hat und ihre Körperwärme der Struktur des Bildes zusetzt, bis es sich langsam auflöst und in sich zusammenfällt.
Es ist auch jeden Tag ein kleines Spiel mit den ´Zuschauern`, ihren Mitmenschen: Öffnet sie den Mantel oder nicht, präsentiert sie ihre neueste Bildidee, oder behält sie sie diesmal für sich? Oder tut sie so, als wolle sie sich bedeckt halten, und testet nur kurz, mit einem halben Mantelschlag, ob jemand schnell genug ist, das kleine Motiv aufblitzen zu sehen? Wird sie heute erwischt, oder bleibt das Bild sicher verborgen? Welches wird es morgen sein?
Heute Morgen, als sie sich mutig gefühlt hat, hat sie ein kleines Foto ihres Vaters genommen und für den Strumpf zurechtgeschnitten, natürlich nur die digitale Kopie des Bildes; das Original ist zu kostbar, es steht in ihrem Regal. Er wurde von der Seite aufgenommen, er lacht jemanden an, der nicht im Bild ist. Sie liebt das Bild sehr. Auf das linke Bein hat sie es heute geklebt, auf die äußere Oberschenkelseite, wo er genug Platz hat, um zu strahlen. Deshalb hat sie zufrieden gelächelt, als sie eben den Mantel geöffnet hat. Er soll gut sichtbar sein.
© Gesche Gaudszuhn
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON MARTIN MICHAEL MUCHA
AUGUST/SEPTEMBER 2018:
Der Übergang
von Laurin (11 Jahre)
Ich wurde immer mehr nach unten gezogen. Es fühlte sich an als ob meine Augäpfel sich umdrehen, meine Nase schrumpfte, mein Mund größer wurde und immer mehr Wasser in meine Lunge kam, welche gleich zerreißen würde. Auf meinen ganzen Körper übte sich übler Druck aus. Alles wurde lang gezogen und zusammen gepresst zugleich. Ich stieg auf und ab. Mein Körper wurde weiche aber auch hart. Das war Zukunft und Vergangenheit. Alles und nichts. Viel und wenig Ich merkte, wie sich alles unfassbar erhitzte. Ausgetrocknet lag ich am Boden. Begraben unter allem, was man sich vorstellen konnte. Ich fühlte mich wie tot und lebend in einem. Meine Gedanken wollten sterben, mein Bewusstsein leben. Alles war so groß, nur ich so klein. Mein Verstand wollte Energie sparen, doch mein Körper bewegte sich. Ich hörte mein Leben zur mir sagen: „Du bist noch nicht geboren.“ Darauf mein Tod: „Aber schon gestorben.“ Ich war zu schön, um zu sterben und zu hässlich um zu leben. So notwendig und so sinnlos. Alles und nichts war in mir. Während ich darüber nachdachte, fand ich mich von Teufeln getragen auf eine Schlucht zu schweben. Diese Schlucht war das Ende. Wie ein Lebender in einem Sarg werde ich dahinschmelzen. Ich schwebte aus den Händen der Teufel vor den Abgrund. Da stand ich, eine kalte, raue Hand griff mich am Hals. Alles oder nichts, das war hier die Frage. Ich wachte auf. Nicht wissend, ob aus dem Tod, dem Leben oder doch nur einem ewigen Traum.
© Laurin (11 Jahre)
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ANA ZNIDAR
JUNI/JULI 2018:
Sprachlos intim
von Edith Häusler
Sie traf ihn, wie schon so oft, im Stiegenhaus des alten Mietshauses. Fast immer am dritten Absatz, dort, wo im Bodenbelag rechts vorne eine kleine Farbabweichung war. Das eintönige, graubraun gemusterte Linoleum wurde hier von einer Delle, die orangerot eingefärbt war, unterbrochen.
Wie immer senkte sie den Blick genau auf diese Stelle und wollte möglichst schnell, ohne ihn im engen Stiegenhaus nahezukommen, vorbei sein.
Sie nahm, ohne sich dagegen wappnen zu können, seinen ganz eigenen Geruch war. Irgendwo zwischen Schweiß, kaltem Rauch und Deodorant. Sofort spürte sie die altvertraute Beklemmung. Nur schnell weg, die Luft wird knapp, das Einatmen schwer. Das Bodenmuster verschwimmt und verliert die Konturen. Sie stolpert fast und spürt den kalten Schweiß über der Oberlippe. Die Ohren, wie mit Wachs versiegelt, lassen keine Geräusche mehr durch. Wie satt sie diesen Zustand hat, der leicht, wenn sie nicht schnell genug ist, zur Panik werden konnte.
Einmal nur, ein einziges Mal nur, will sie der Situation gewachsen sein. Einmal nicht flüchten. Stehen bleiben, die Augen heben und ihm in die Augen sehen. Sie ballt die Fäuste, erstarrt mitten in der Drehung und gibt sich das Kommando „jetzt“. Sie zwingt sich die Augen Zentimeter um Zentimeter vom orangeroten Fleck weg nach oben gleiten zulassen. Sie sieht überdeutlich die ausgebeulte, über dem Knie fleckige Hose, die ausgefransten Tascheneingriffe, das fadenscheinige Sakko und ein am Kragen schmuddeliges Hemd. Jetzt ist sie bei seinen Augen angekommen. Sie blickt starr, ohne zu blinzeln, ohne die Augenlider zu bewegen, in seine Iris, und hält den Blick genau dort mit großer Überwindung fest. Ihre Blicke verhaken sich ineinander, die Sekunden dehnen sich, doch plötzlich hört sie wieder die Straßengeräusche und spürt fast sofort ein ungeheures Gefühl der Erleichterung. Angenehme Wärme breitet sich aus – geschafft.
Durch ihr Aufschauen verunsichert, bleibt er wie angewurzelt stehen. Er erliegt der Intensität ihrer dunklen, Anteil nehmenden, fragenden Augen und kann den Blick nicht mehr abwenden. Während ihre Augen einander festhalten, kann er sich plötzlich mit ihren Augen sehen. Er sieht sich wie in einem Spiegel.
Seine hängenden Schultern, den mageren Brustkorb, den gewölbten Bauch und die dünnen Arme und Beine. Er fühlt sich genau betrachtet und in seinem Innersten erkannt. Nach einem Augenblick der Anteilnahme, ja fast heiterer Gelassenheit, spürt er ihre Enttäuschung, ihr inneres Zurückweichen. Sie sieht seine ganze Trostlosigkeit. Ihr Blick löst sich aus der Intimität, gleitet wieder zu Boden, als habe sie schon zuviel gesehen, zu viel gespürt. Als wolle sie ihm etwas ersparen, beschleunigt sie ihren Schritt und biegt um die Ecke des Ganges.
Er steht erstarrt am dritten Absatz des alten Mietshauses und kann nicht in seine gewohnte Welt zurückkehren. Er sieht sich immer noch mit den dunklen, Anteil nehmenden Augen, der nicht mehr ganz jungen Frau. Es ist qualvoll. Er versteht ihr Zurückweichen. Er hat nichts, aber auch gar nichts, vorzuweisen. Die letzten zwanzig Jahre ein einziger Selbstbetrug. Das Warten auf den großen Wurf, die Vorstellung davon, wie es sein wird, wenn seine geniale Idee andere begeistert, beflügelte jahrelang seine Einschlafphantasien und nahm dann zunehmend auch seine Tagträume in Besitz. Sein „großer Wurf“ duldete keine Beschäftigung mit trivialen Dingen.
Erschaudernd hat er die säuselnde Stimme seiner Tante im Ohr, die jedem Menschen, wen immer auch sie gerade erwischte, vom hochbegabten, vielversprechenden Kind, vom vielversprechenden Studenten, erzählte.
Aber das „vielversprechende Kind“ hatte kein Versprechen eingelöst. Es hatte auch sonst wenig getan. Er erlebte sich erstmals mit ungeheurer Deutlichkeit als Versager. Das Warten auf den großen Wurf war zu einem Gefängnis geworden, das Nähe zu anderen Menschen, Freude an kleineren Erfolgen, Begeisterung für fremde Ideen ausschloss. Viele ungelebte Möglichkeiten, Momente des Glücks, nicht nachholbar, nie gewesen. Er spürt unendliche Traurigkeit, sieht seine zitternden Hände, ballt die Fäuste, um sich aus der Erstarrung zu lösen und um wieder in seine Welt, zu seinem Bild der Welt zurückzukommen. Aber nichts hilft, er sieht sich immer noch mit den Augen der nicht mehr ganz jungen Frau. Der Atem geht stoßweise, wird keuchend. Er stürzt zwei Stufen auf einmal nehmend, das Treppenhaus hinauf. Nur zurück in seine Wohnung, in sein Arbeitszimmer, seine schützende Höhle, seine Ideenwerkstatt, wo immer Trost und Hoffnung für ihn bereit liegt. Im Laufen sucht er in der Hosentasche den Schlüssel, nur schnell hinein, wieder eintauchen in seine geordnete, intellektuelle Welt.
Sein Wohn- und Arbeitszimmer sieht aus wie immer, alles ist unverändert – doch er
sieht es jetzt wie ein Fremder. Der große Schreibtisch, zentral den Raum beherrschend, fast völlig bedeckt mit Schreibutensilien. Viele Stifte nach Farben geordnet, Bleistifte frisch gespitzt und nach Größe sortiert, drei Füllfedern liegen auf der rechten Seite und ein Laptop, fast unsichtbar unter einem Stapel Papier, ruht links. Zeitschriften, nicht mehr aktuell, stehen in großen Stapeln daneben. Alles ist von einer dünnen Staubschicht bedeckt und wirkt ein bisschen vergilbt. Viele Bücher in Regalen bedecken die Wände, breiten sich aber auch auf den Boden darunter aus. Der Tisch ist von Tageszeitungen bedeckt. Die dunklen Möbel wirken insgesamt abgewohnt, zeugen aber von einstmals gutem Geschmack. Eine schmale Liege, der Abdruck des Kopfes deutlich sichtbar, ist in eine Ecke gerückt und eine vergraute Decke liegt halb am Boden, als habe jemand in Eile, vielleicht unter anstürmender Inspiration, die Liege verlassen.
Es zieht ihn, Geborgenheit suchend, zu seinem Schreibtisch. Er stellt sich mit ausgebreiteten Armen, wie beschützend davor, doch er kann nicht in seine Welt zurück. Nach Luft ringend stammelt er, „gehen Sie weg, gehen Sie endlich weg.“ Die kultivierte Stimme erstirbt und der Mann setzt sich keuchend, als würden ihn seine Beine genau nur mehr bis dahin tragen können, auf die zerwühlte Liege. Die Decke rutscht jetzt durch den Anstoß ganz zu Boden und er verheddert sich mit den Füssen darin.
Er starrt auf seinen Schreibtisch, auf das Zentrum seines bisherigen Lebens und sieht einen Arbeitstisch, an dem schon lange nicht wirklich gearbeitet wurde. Er kann sich auf nichts mehr konzentrieren. „Um Himmels Willen gehen Sie weg.“ Die Stimme jetzt fast unhörbar und Tränen rinnen lautlos über seine Wangen. Er versucht weder die Tränen wegzuwischen noch sie zu verbergen. Seine Gedanken rasen unstet und gehen immer wieder zurück zur Begegnung im Stiegenhaus. Er sitzt jetzt zusammengesunken auf der Liege, als hätte er sich einer höheren Macht ergeben. Die Idee vom großen Wurf verblasst. Er sieht deutlich, dass aus dem vielversprechenden jungen Mann nichts Großartiges geworden ist. Schlimmer noch, er spürt, dass auch nie etwas Großartiges aus ihm werden wird.
Schon sehr früh verabscheute er jede Mittelmäßigkeit. Er verachtete zutiefst jene, die sich munter im Durchschnittlichen bewegen. Und jetzt – was kann er jetzt noch tun. Er sieht mit Grauen ganz klar die eigenen Grenzen. Der ganze Raum zeugt von seiner Mittelmäßigkeit. Unaushaltbar! Ihm wird eiskalt. Sein Schreibtisch, seine Bücher sind bedeutungslos geworden. Er verharrt in Erstarrung. Die Zeit tropft langsam.
Dann plötzlich ein rettender Gedanke. Sein Untergang wird, ja muss grandios sein. Er darf jetzt nichts dem Zufall überlassen, denn jetzt geht es um seine letzte Chance, den großen Wurf doch noch hervorzubringen. Es braucht noch viele Überlegungen für ein wirklich grandioses Scheitern. Der Rücken strafft sich, er fühlt schon, wie die Größe der Aufgabe ihn lockt. Er erhebt sich, die Beine aus der Decke befreiend, langsam und bedächtig. Sein Schreibtisch zieht ihn, in altvertrauter Weise, wieder magnetisch an.
© Edith Häusler
Mama weg
von Laya C.
Ich will nicht sterben. Aber ich kann das Geschrei nicht mehr hören und ich muss den Wurm loswerden. Den Wurm in meinem Bauch. Ich muss die richtige Dosis finden, die richtige Dosis.
Die Pillenschachtel ist hellblau mit weißer Schrift und fast voll. 5 Pillen in einer Reihe, 2 Reihen pro Streifen, 3 Streifen. Macht achtundzwanzig – dreißig minus die zwei, die schon fehlen.
Ich will nicht sterben. Ich will meine Kinder lieben. Aber dieses ohrenbetäubende Geschrei. Und der Wurm in meinem Bauch. Ein paar Milimeter, größer kann er noch nicht sein. Neunte Woche.
Auf die Dosis kommt es an. Den Beipackzettel zu lesen bringt nichts, ich muss selbst herausfinden, was die richtige Dosis ist. Ich will nicht sterben. Nur das Gebrüll nicht mehr hören und den Wurm in meinem Bauch nicht mehr haben.
Ich löse zehn Tabletten aus der Verpackung. Sie sind klein, rund und weiß. Sie liegen in meiner Handfläche und haben fast kein Gewicht. Sehen harmlos aus wie Bonbons. Sie werden mich nicht umbringen. Ich will mich nicht umbringen. Ich will nur das Gebrüll nicht mehr hören und den Wurm nicht mehr haben.
Ich will meine Kinder lieben, immer wollte ich Kinder haben, die ich lieben kann, mindestens drei, und jetzt brauche ich mindestens fünf, um drei großziehen zu können.
Das erste Kind ist gestorben, es ging zu schnell, Geburtsurkunde und Sterbeurkunde innerhalb einer Woche, nicht einmal ein Foto habe ich von ihm. Und dann gleich wieder schwanger, auf Anraten des Arztes, um mich über den Verlust hinwegzutrösten. Was für ein Trost.
Das zweite lebt, und es brüllt, unaufhörlich. Ich würde ihn so gerne lieben, diesen zweiten Sohn, es ihm nicht übelnehmen, dass er lebt und der erste nicht. Vielleicht brüllt er deshalb, vielleicht schreit er sich deshalb die Lungen aus dem Leib, unaufhörlich.
Das dritte ist ein Wurm in meinem Bauch. Drei Kinder in zwei Jahren. Ein totes, ein brüllendes und ein Kuckuckskind. Das hätte nicht passieren dürfen.
Die richtige Dosis, ich muss herausfinden, was die richtige Dosis ist. Nochmal zehn Tabletten. Zwanzig kleine weiße Pillen in meiner Hand, noch immer fast kein Gewicht.
Vielleicht geht es weg, das dritte, mit der richtigen Dosis.
Es ist verrückt, dass ich ein Kind loswerden muss, um glückliche Kinder zu haben, mindestens drei. Ich wollte immer Kinder, wollte Familie, eine richtige, nicht so wie wir damals, meine Mutter und ich, im Krieg, kein Vater weit und breit, keine Brüder, keine Schwestern, die herzkranke Mutter, die Zuckerrüben stehlen ging in der Nacht, damit wir nicht hungern mussten, und ich allein im Haus mit den russischen Soldaten, Tock-Tock-Tock, jede Nacht die schweren Schritte auf der Treppe. Wenn ich Glück hatte, hatten sie zu viel getrunken und gingen an unserer Tür vorbei, wenn nicht, kamen sie in unser Zimmer und zu mir ins Bett. Wir hatten nur ein Zimmer und ein Bett, meine Mutter und ich. Meine Kinder sollen es besser haben.
Die meisten ersticken an ihrem Erbrochenen, wenn sie eine Überdosis nehmen, aber ich werde nicht ersticken. Ich will nicht sterben.
Das hätte nicht passieren dürfen, schon gar nicht, während mein Zweitgeborener im Brutkasten auf der Säuglingsstation lag, schon gar nicht, während ich Milch abpumpte und zweimal täglich zu ihm brachte, schon gar nicht ein Kuckuckskind von Peter. Mein Mann darf das nie erfahren, der Wurm muss weg. Alles, was ich tun muss, ist die richtige Dosis finden.
Ich hätte nie gedacht, dass ich Peter jemals wiedersehen würde. Er war der schüchternste Junge in der Hauptschule. Niemand machte sich ber ihn lustig, obwohl er eine dicke Brille trug und tolpatschig war. Er war der Sohn des Dorfarztes. Ich war das dünnste Mädchen mit der ärmlichsten Schultasche und nur einem Stück trockenem Brot zur Jause. Über mich machten sich alle lustig. Aber er, Peter, hat mich geküsst, nach der Sonntagsschule, hinter der Kirche. Wir haben uns Briefe geschrieben, bis wir zwanzig waren. Dann haben wir uns aus den Augen verloren. Und dann war er wieder da, war Kinderarzt auf der Säuglingsstation, war plötzlich bei mir, als ich neben dem Brutkasten stand und weinen musste, weil mein Zweitgeborener zwischen all den Schläuchen so winzig aussah und so zerbrechlich.
Ich weiß nicht, wie das passieren konnte mit Peter. Ich weiß nicht, wie das passieren konnte mit dem Kuckuckskind. Es heißt, man kann nicht schwanger werden, wenn man noch Milch hat. August darf das nie erfahren. Er hat mich kein einziges Mal berührt, nicht während der ersten Schwangerschaft und auch nicht während der zweiten. Nur das zweite Kind hat er mir gemacht, auf Anraten des Arztes.
Achtundzwanzig. Ich nehme alle achtundzwanzig. Wenn das tödlich wäre, könnte man die Pillen nicht einfach so in der Apotheke kaufen. Ich will nicht sterben. Ich will meine Kinder lieben. Ich will eine glückliche Familie. Nicht so wie damals, meine Mutter und ich.
Mama da? Mama? Wo. Wo ist sie. Gluck-Gluck-Gluck. Bumm-Bumm-Bumm-Bumm. Gluck-Gluck-Gluck wird lauter, Bumm-Bumm-Bumm-Bumm wird leiser. Wo ist sie. Mama weg? Ich allein. Brauche Bumm-Bumm-Bumm-Bumm. Mama weg. Ich allein. Bumm-Bumm-Bumm-Bumm immer leiser. Gluck-Gluck-Gluck laut. Ich brauche Bumm-Bumm-Bumm-Bumm, wo ist es? Immer leiser. Mama. Mama weg? Allein. Angst.
Sie zieht die rechte Augenbraue hoch. Ich weiß es, obwohl ich es nicht sehen kann. Sie sitzt am anderen Ende der Welt.
„Das kannst du mir nicht antun!“, schreit sie. Ich schalte den Lautsprecher des Autotelefons leiser. „Wieso dir, Mama? Wieso dir?“
„Deine Kinder brauchen einen Vater“, sagt sie, und ich höre, wie sie nach Luft ringt. „Das kannst du nicht machen. Du kannst nicht alles hinschmeißen, nur weil du dich in einen anderen Mann verliebt hast. Du benimmst dich wie ein junges Gör. Werde erwachsen! Du hast Verantwortung!“
Es ist heiß im SUV. Die Kleinen schlafen hinten auf der Rückbank, Elenas Kopf ist zur Seite gefallen, ein dünner Speichelfaden zieht sich von ihrer Unterlippe zum Rand ihres rosa geblümten Shirts. Jacobs Haare sind nass vor Schweiß, seine Wangen hochrot. Zwischen den Kindersitzen türmen sich die Plastiktüten mit den Einkäufen.
Ich sollte längst zuhause sein, aber ich stehe noch immer am Parkplatz des Einkaufszentrums. Ich kann nicht fahren, während ich mit meiner Mutter telefoniere. Ich hätte nicht abheben sollen.
„Hör zu, Mama. James wird trotzdem ihr Vater sein, auch wenn wir uns trennen. Er wird sich weiterhin um die Kinder kümmern.“
„Während du mit einem anderen Mann herummachst, oder wie? Wer ist der Kerl überhaupt? Was fällt ihm ein, deine Familie zu zerstören?“
Ich versuche, nicht gleich zu antworten. Ich weiß, wie meine Stimme klingen wird, wenn ich es tue. Ich bin bis nach Australien ausgewandert, um den Tonfall nicht mehr hören zu müssen, den meine Stimme jedes Mal annimmt, wenn ich mit meiner Mutter streite. Und um ihre hochgezogenen Augenbrauen nicht mehr sehen zu müssen. Umsonst.
„Mama, hör zu, ich muss jetzt los. Ich muss für die Kinder kochen. Hier ist es Mittag, weißt du.“ Ich nehme mir fest vor, innerhalb der nächsten Minute aufzulegen und den Motor zu starten.
„Ist dir klar, welche Schuld du auf dich lädst? Ist dir klar, was du deinen Kindern damit antust? Jeder weiß doch heute, wie sehr Kinder unter einer Scheidung leiden!“
Meine Stimme kippt, klingt gepresst, schrill und gehässig. „Im Gegensatz zu meinen Kindern weiß ich nicht einmal, wer mein Vater war. Hast du das vergessen, Mama? Hast du das vergessen?“
Jetzt kommt das verächtliche Schnauben. Ich weiß es, bevor ich es höre. Jedes Mal, wenn unser Gespräch auf meinen Vater kommt, schnaubt sie auf diese Weise. Nach dem Schnauben kommt das Zischen.
„Nein, das habe ich nicht vergessen, und ich habe auch nicht vergessen, wie undankbar du bist! Ich habe dich großgezogen, unter schwierigsten Umständen, ich hätte dich nicht bekommen müssen, hörst du, ich hätte dich nicht auf die Welt bringen müssen unter furchtbaren Schmerzen, und ich hätte ein sehr viel einfacheres Leben haben können, wenn es dich nicht gegeben hätte!“
Elena schnieft leise im Schlaf. Gleich wird sie aufwachen und zu weinen beginnen. Ich muss losfahren, damit sie weiterschläft.
„Mama, das erzählst du mir zum tausendsten Mal. Aber ich habe das nicht entschieden. Ich hatte keine Wahl, oder? Du bist diejenige, die diese Entscheidung getroffen hat. Du hast kein Recht zu behaupten, ich hätte dein Leben zerstört!“
Für einen Moment ist es still am anderen Ende der Welt.
„Ich muss auflegen, Mama“, sage ich. „Bis später.“
Still. Kein Bumm-bumm-bumm-bumm mehr. Kein Gluck-Gluck-Gluck. Angst. Allein. Still. Mama? Brauche Mama. Brauche Bumm-bumm-bumm-bumm.
Dann plötzlich laut. Hell. Laut und hell. Wieder still. Wieder laut und hell. Wieder da. Bumm-Bumm-Bumm-Bumm wieder da. Mama wieder da. Nicht mehr allein. Wieder da. Nicht mehr allein. Bumm-Bumm, Bumm-Bumm. Wieder da. Mama.
Ich nehme einen tiefen Atemzug, dann drücke ich die Türschnalle hinunter. Das Schlafzimmer habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. Ich bin nicht neugierig auf das, was ich hier finden werde.
Der Einbauschrank, der das Bett umrahmt. Die Fototapete gegenüber des Bettes. Ein alter Teddybär. Eine weiße Kommode mit drei Laden und zierlichen Beschlägen. Darüber ein runder Spiegel. Rustikale Vorhänge, die perfekte Falten werfen.
Das Doppelbett mit zwei Lattenrosten und zwei Matratzen, aber nur einer Bettdecke und einem Kopfkissen. Seit ich mich erinnern kann, hat außer meiner Mutter nie jemand in diesem Bett geschlafen.
Ich beginne mit der Kommode, nehme mir eine Lade nach der anderen vor. Weiße Baumwollunterhosen, feinsäuberlich gestapelt. Weiße Unterhemden, beige Socken, Strümpfe und Nylonstrumpfhosen. Links von mir ein großer Karton, rechts von mir ein blauer Müllsack aus strapazierfähigem Material. Meine Hände bewegen sich mechanisch und systematisch. Es ist einfacher, als ich dachte. Keine großen Gefühle. Karton, Müllsack, Müllsack, Karton.
In der mittleren Lade dann die Mützen. Eine schlichte rote aus weicher Baumwolle, und eine graue, elegant gerafft, mit einer silbernen Blüte auf der Seite. Ich habe beide bei amazon für sie bestellt, damals. Ich dachte, sie würden ihr gefallen, aber sie hat immer nur die rote getragen, wenn ich sie besucht habe. Vorsichtig streiche ich mit den Fingerspitzen über den Stoff. Halte die Mütze an die Nase, sauge den Geruch ein. Eine Welle von Schmerz. Ihr Schmerz. Sie hat kein einziges Mal geweint. Nicht, als der Gebärmutterkrebs diagnostiziert wurde, nicht bei der ersten OP, bei der sie fast gestorben wäre, nicht bei der Not-Operation nach dem Darmverschluss. Erst, als ihr die Haare ausgefallen sind, hat sie Tränen vergossen. Vielleicht war der Krebs ihre Art, zu weinen.
Ich werfe die Mützen zur Unterwäsche in den Müllsack. Dann, im hinteren Eck der untersten Lade, eine Schatulle aus blankpoliertem Holz. Ich öffne sie. Alte Briefe, die ich nicht lesen, alte Fotos, die ich nicht sehen will. Ich kippe den Inhalt der Schatulle in den blauen Sack. Als ich die Schatulle in den Karton legen will, flattert ein letztes Foto heraus. Ich hebe es vom Boden auf. Das Foto ist vergilbt, der Rand mit Zacken versehen. Kurz betrachte ich den Jungen mit den dicken Brillengläsern auf dem Foto, dann werfe ich es zu den anderen Aufnahmen in den Sack.
Der Müllsack ist voll, ich zurre das gelbe Band fest und mache eine festen Knoten hinein. Dann ziehe ich ihn hinter mir her, Stufe für Stufe die Treppe hinunter. Ich trete vors Haus. Es ist Frühling.
© Laya C.
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ERICA FISCHER
SEPTEMBER 2017:
Haut
von Christine Kallfaß
©Haut
Pirsich
ICH
Schutz
ZART
DU?
ICH
VOR-SICHT
RAUM
SCHUTZ -Raum
RAUM
Mein –Schutzraumwunder
R – A – U – M – Raum
ZEIT
Blüte
Duft
Pfirsich
GENUSS
DUFT
SOMMER
Pfirsichduft
ZART – WANGE
Ich fahre mit dem Fahrrad den Baum, hinauf und ernte einen duftenden Pfirsich. Unten wieder angekommen teile ich ihn in zwei Hälften.
–
Ich sitze nun an einem weißen Tisch, auf einem weißen Korbstuhl und warte.
Auf einem weißen Teller vor mir liegen die zwei Hälften des rotbackigen Pfirsichs.
Ich warte darauf, wem ich die zweite Hälfte des Pfirsichs schenken kann.
Sein köstlicher Duft steigt mir in die Nase. Ich lächle.
Mit meinen Fingerspitzen berühre ich die Außenseite – wie Samt, wie Blütenstaub, dann
die Außenseite des Inneren – feucht und weich.
Wie?
!SO!
so?
H-A-U-T
Haut
IN-NEN
FEUCHT
(Ich-DU?)
Grenzland
GRENZE
LAND-
HAUT-
H
A
U
t (wenn gesprochen, nur noch als t Konsonant anklingen lassen)
–
e – e – e ( wenn gesprochen, nur gehaucht, mit Gaumenklicklaut oder damit improvisieren)
© Christine Kallfaß
Inspiriert durch:
PFIRSICHGEFÜHL
Ich bin ein Pfirsich, ein Pfirsich, ein Pfirsich.
Wie ich schmecke, weiß ich nicht.
Einfache Erklärung: keiner kann aus seiner Haut heraus.
–
Magret Kreidl: Einfache Erklärung, Alphabet der Träume
Edition Korrespondenzen, Wien 2014
Die Kräuterhexe
von Heidi Manzl
Unsre Hexe kennt die Kräuter.
Manche stimmen fröhlich, heiter.
And’re lassen Galle fließen
Oder neue Haare sprießen-
Aus geheimnisvollen Pflanzen
Hat sie so manchen Saft gebraut.
Für alles ist ein Kraut gewachsen.
Für’s Herz, für’s Hirn und für die Haut.
Hast du ein gebroch’nes Herz,
Weißdorn lindert Deinen Schmerz.
Hat Dich ein Floh ins Bein gebissen
Leg rasch darauf ein Kräuterkissen.
Hat ’ne Wespe Dich gestochen
Oder ist Dein Bein gebrochen,
Arnika macht’s wieder gut.
D’rum verliere nie den Mut.
Minze gegen Magenschmerzen.
Melisse mildert harte Herzen.
Mate macht die Müden munter.
Linde drückt das Fieber ’runter.
Beleben soll Dich Rosmarin
Und heiter stimmen der Jasmin.
Orange tut der Seele gut.
Johanniskraut schenkt frischen Mut.
Mit Ginseng, Gingko und mit Klee
Bleibst jung und frisch und voller Schmäh.
Bei Schmerzen hilft in manchem Falle
Die Weide und die Teufelskralle.
Und kannst Du mal nicht richtig schlafen,
So will die Hexe Dich nicht strafen.
Trink einen Schluck Melissenwein,
Und bald stellt sel’ger Schlaf sich ein.
Du schläfst dann glücklich wie ein Kind
Und treibst in’s Träumeland geschwind.
Hast ein ganz unschuldiges Gesicht.
Denn wer gut schläft, der sündigt nicht.
© Heidi Manzl
Mahagoniegel
von Sabine Fiala
Egel
Ekel Enkel Engel
Mahagoniegel Agonie
Agonieekel
Igel Enkel Engel
wer weiß
womöglich werd auch ich
den derzeit noch im Urgrund der Gedanken Schwebenden –
den Enkel –
eines Tages an der Hand nehmen dürfen,
ihm bedeuten, ganz leise zu sein
und ihm das Tierchen zeigen, das flink
über die Wiese läuft.
„Igel“ werde ich sagen, schau mal, ein Igel –
und „Esel?“ wird er mich fragen. IA IA?
Darf ich nochmals eintauchen in
die magische Welt, in der das Christkind, der Zauberer,
Engelsgestalten und Riesen sich tummeln?
Ganz ohne die Gedankenspiele rund um Egel und Agonie
sonder voller Freude und Heiterkeit
versprech ich ihm heute schon
ein besonders hübsches Armbändchen,
so ein prächtiges, buntes mit gelben Zitronen aus Holz, grünen Blättern,
mit gelben Blüten und blauen Steinen.
© Sabine Fiala
TRAUEN TÄT
von Sabine Fiala
Ja wenn man sich nur trauen tät
wenn man sichs denken trauen tät
und fühlen
dann könnt mans auch weiterdenken
und tiefer fühlen
und dann ankommen
wie Perlentauchen
womöglich könnt man dann sogar
irgendwann mal
zu Ende denken
und verstehen
es könnte Sprache kriegen
ein Wort
sodass mans mitteilen könnt
und später
wenns genug bedacht, durchgefühlt, verstanden
und besprochen ist
dann darfs auch wieder kleiner werden
von weiter weg betrachtet
irgendwann dann wird’s ganz leicht
und verliert seine Kraft
nach alledem.
Dann könnt man es zusammenknüllen
und ins Feuer werfen.
Der einladende Kamin wartet bereits geduldig.
Die Flamme wird nochmal
kurz auflodern und uns ein wenig Wärme spenden.
Ja, wenn man sich das alles nur trauen tät.
Kein Bumerang könnt es jemals zurückbringen
und die Welt steht Dir offen, meine Liebe.
Probiers mal mit Australien!
© Sabine Fiala
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ANA ZNIDAR
JULI 2017:
Superman
von Christine A.
Jamie liegt in seinem Bett, das ein altes durchgelegenes Schlafsofa ist. Er hat sich in die Ecke zusammen gekauert. Der kleine dunkelbraune Teddybär, den ihm sein Vater kurz vor seinem Tode noch zum Geburtstag geschenkt hat, liegt einäugig, wie er mittlerweile ist, verkehrt am Boden davor. Jamies Körper ist starr und stocksteif. Kalter Schweiß steht ihm auf der Stirn. Sein Atem stockt. Das ist nicht das erste Mal. Immer wieder. Jede Nacht der selbe Krach; das selbe sich überschlagende Geschrei aus dem Nebenraum; heftiges Türenschlagen und Gepolter.
„Happy birthday to me…happy birthday to me…Marmelade im…Marmelade…Marmelade.“ Jamie stoppt seinen Singsang und sein monotones Vor-und Zurückwippen im Bett.
Nein, nein! Bitte, bitte nicht! Nicht schon wieder. Nicht heute! Heute ist doch mein Geburtstag… mein Geburtstag. Ich…ich…oh je, oh weh…oioioi. Autsch. Das tat bestimmt weh. Oh Gott, oh Gott! Warum? Kann das nicht aufhören? Ist das sie? Wimmert meine Mama da? Ich…ich kann das nicht ertragen! Mama? Mmmh, mmmh.
Jamie umkauert mit den Armen seine angezogenen Beine, verfällt in ein leises Gesumme; den Kopf fest an die Knie geschmiegt. Minutenlang. Minuten wie Stunden.
Ah, jetzt ist alles ruhig. Soll ich schauen gehen? Warum bin ich so nass? Mein Kopf, meine Stirn sind ganz kalt, aber nass.
Teddy? Wo ist Teddy? Wo ist mein Teddybär?
Heiße Tränen kullern ihm lautlos über die Wangen. Brennen fast.
Teddy? Uff, hier! Hier bist du ja. Ich habe dich schon gesucht! Hast du dich gefürchtet? Hast du dich versteckt? Na komm; komm her zu mir. Schon gut. Ich glaube, für heute ist es vorbei…
Mit einer schnellen gekonnten Bewegung hievt Jamie den Bären zu sich, doch bevor die beiden fast schon unter der Decke verschwinden, entsteht draußen vor der Tür abermals Tumult.
Warte mal. Warte! Pst! Sei ganz still. Luft anhalten! Pssst! Komm, wer kann´s länger: tief einatmen und still! Herrje Teddy, was treibst du da? Verdammt schon wieder! Hier ist ja jetzt das ganze Bett nass. Oioioi, wenn das Mama sieht, dass du wieder ins Bett gemacht hast. Dann geht’s dir, so wie ihr eben. Dann setzt´s was! Aber kräftig! Was soll man da sonst machen?
Oh, oh…sei still! Es geht wieder los.
Wein nicht, nicht weinen! Komm her; jetzt wein doch nicht. Nur nicht weinen.
Wein nicht-später mal wird jemand kommen und uns retten: Superman…mindestens!
*
Jetzt hat er ihn stehen lassen. Seinen Rucksack. Mit dem er Hals über Kopf hier bei mir hereingeplatzt kam. Was war ich glücklich! Welch ein Glück auch, dass meine Knie mir nicht nachgaben bei seinem hingehauchten Begrüßungskuss…Mutter mag zwar keine unangekündigten Besuche, aber sie ist eh nur selten da. Ein Glücksfall, in diesem Fall.
Therese hebt den Rucksack hoch zu sich aufs Bett. Frisch gemacht ist es. Die Bettwäsche riecht noch nach Mutters neuem Weichspüler. Rosenduft. Therese mag das. Das weiß ihre Mutter.
Aus der Stereoanlage im Hintergrund plärrt Radioheads Creep: You´re so special. I wish I was special.
Ist dieser Rucksack auch seine Schultasche? Oder hatte er bei seinem Kommen noch eine zweite Tasche bei sich? Ich erinnere mich nicht. Ich war woanders mit meinen Gedanken. Na, eine Schultasche kann das wohl nicht sein, denke ich bei mir. Und sehr schnell siegt dann meine Neugierde über mein Gewissen-dass in fremden Sachen zu wühlen, sich nicht schickt. So würde sowieso nur Großmutter sich noch ausdrücken. Und außerdem ist gerade Jamie nicht der Typ, der sich um so was scheren würde. Naja, und wer weiß, vielleicht ist da ja etwas drin, was Jamie dringend noch heute brauchen würde.
Von dem ergrauten Rucksack geht ein befremdlicher Geruch aus. Der fällt Therese erst auf seit er nicht mehr am Boden unten, sondern auf ihrem Schoß steht. Man kann den Geruch leider nicht als angenehm bezeichnen.Trotzdem nimmt sie ihn mit beiden Händen und führt ihn langsam und mit Bedacht zu ihrer Nase.
Der Rucksack stinkt! Was ist das denn? Therese zögert, aber schnuppert dennoch gleich wieder-als könnte sie sich Jamies Gegenwart so nochmals hier her holen…
Ich fürchte, ich bin verliebt.
Aber was ist das verdammt noch mal für ein Geruch? Schweiß? Faulige Feuchte? Alte Essensreste? Die Neugierde ist beflügelt. Sie öffnet den ersten Zipp oben, nicht ohne sich nochmals vergewissert zu haben, alleine zu sein.
Creep ist zu Ende. Es ist leise im Raum, nur das laute Ticken einer Pendeluhr ist von draußen zu hören.
Viel ist es nicht, was da zum Vorschein kommt. Ein Handtuch-das riecht, benutzt und feucht. Es sieht schon sehr verwaschen aus. Nicht zusammengelegt, es ist achtlos hineingestopft. Das trägt zum Geruch das Seine bei. Eine Sporthose und ein altes T-Shirt, am Bund stark ausgeleiert. Auch benutzt und zerknüllt. Turnschuhe, ausgetreten. Und weiter unten…was ist das?
*
„Ich war es nicht! Immer ich! Verdammt, ich weiß nicht, warum mir nie jemand glaubt“, protestiert Jamie resignierend. Die Frau Professor ist mit Jamie auf dem Weg durch das Stiegenhaus hinunter zur Direktion.
Nur weil dieser Trottel hier sagt, dass ich sein Handy mitgehen habe lassen, glaubt die ganze Welt jetzt wieder mal, dass ich das gewesen bin…Klar, ich höre schon euer, wer einmal lügt,…Und jetzt werden sie wieder meine Mutter anrufen, aber es ist eh egal. Mir ist alles egal. Und was schert die sich überhaupt…
Wieder mal ist einem Mitschüler in einer der Pausen das Smartphone abhanden gekommen. Der Verdacht fiel natürlich sofort auf Jamie. Eine ganze Serie von Diebstählen erwies sich noch als ungeklärt. Noch. Und von wegen Unschuldsvermutung. Jetzt ist genug. Jetzt braucht es endlich Konsequenzen. Dieses Früchtchen! Erst letzte Woche hatte sich ein Verdacht der Professorin als goldrichtig herausgestellt. Da brauchte ihr niemand zu sagen, dass es nicht zu ihren Rechten gehört, in fremden Taschen zu wühlen und seien es die der Schüler…Schultasche, wenn man so etwas überhaupt Schultasche nennen konnte. So etwas würde sie nicht mal mehr Rucksack bezeichnen. So etwas war nur noch reif für den Mülleimer! Aber wo sie Recht hatte, hatte sie Recht-gleich mehrere Smartphones waren eben dort bei James aufgetaucht. Was sollte bloß aus diesem Jungen werden.
Er war doch kein Kind mehr. Zumindest kein unmündiges Kind. Und jetzt wieder das: Ich war´s nicht. Immer das selbe Spiel. Gut, diesmal hatte sie tatsächlich keinen Beweis. Das Telefon ist unauffindbar, aber auch James Schulrucksack war nirgends zu sehen. Das durchtriebene Schlitzohr behauptet doch glatt, er hätte diesen bei der Mitschülerin Therese vergessen mit der er gestern nachmittags noch für die Schularbeit gelernt hätte. Ja klar, James und lernen und noch dazu mit Therese. Therese: die Vorzugsschülerin; Therese: die Schulbeste. Therese und James?
*
Therese, Therese! Liebe Therese!
Ich weiß nicht was, ich weiß nicht wie…
Wie kann ich dir erklären, wie all das kam. Jetzt sitze ich jedenfalls nicht wie du in der Klasse an der Schule. Jetzt sitze ich hier in einem spärlich eingerichteten Raum-Bett, Tisch, vier Stühle, Kleiderkasten. An der Wand ein Waschbecken. Im Nebenraum eine Toilette. Und vor dem Fenster, du kannst es dir unschwer vorstellen-Gitter, Gitterstäbe. Stäbe zwischen der Freiheit und mir. Stäbe zwischen dir und mir. Ob du all das wohl hören willst, lesen willst? Ob dich all das überhaupt noch interessiert?
Die Schularbeit habe ich übrigens noch passabel hinbekommen…dir zum Dank! Was sollte ich ohne dich? Hier gibt es übrigens auch eine Schule. Also Schule ist wohl übertrieben.
Eine Klasse, ein Lehrer. Wir lernen oder jeder lernt, wie er kann, was er kann. Die Matura kann ich mir trotzdem aufzeichnen.
Das Essen ist gut. Na ja, wenn man nicht verwöhnt ist. Ich stelle mir vor: deine Mutter, deine Großmutter kochen besser. Meine Mutter hat nie wirklich gekocht. Wenn sie spätnachts nach Hause kam, roch sie immer erschreckend widerlich nach altem Frittieröl…ekelhaftes, abgestandenes Fett. Der Geruch frisst sich in Kleider, du kannst es dir nicht vorstellen. Wenn sie sich dann zu mir auf das Schlafsofa im Wohnzimmer gelegt hat-eindeutig zu eng, eindeutig zu nah-habe ich jedes Mal so getan, als ob ich nicht durch Licht, Lärm und Gestank aufgewacht wäre. Erst nach endlos scheinenden Minuten habe ich mein Gesicht von ihr abgewandt und wieder etwas freier geatmet.
Tja, freier atmen nachts kann ich hier zwar. Ich muss zumindest nicht mein Bett teilen; für eine Zeit, nehme ich an…
Für eine Zeit werden wir nicht miteinander für Schularbeiten lernen, uns nicht sehen, nicht hören…
Wirst du mir bleiben?
Jamie, dein Jamie
*
Draußen Regen. Therese beeilt sich hineinzukommen. Die schwere Türe. Das lang anhaltende Surren des Türöffners.
Meine Schritte auf dem kalten, marmornen Boden hallen. Auf dem Weg bis zur ersten Schleuse klopft mein Herz, als ob es in meinen Hals hüpfen möchte. Ein uniformierter Sicherheitsbeamter verlangt meinen Ausweis und die Besuchserlaubnis.
„Unterschreiben bitte! Ja, hier.“
Es scheint tatsächlich so, als ob sie mich diesmal bis zu ihm vorlassen würden. Vorlassen in den
Besucherraum. Bisher blieben all meine verzweifelten Versuche ergebnislos.
„Sie wissen, wenn schon jemand hier ist, darf niemand mehr in den Besucherraum…“
„Sie müssen wissen, die nächsten Angehörigen gehen vor…“
„Und gegen jemanden Willen können wir sie auch nicht…“
Wie bitte: gegen den Willen?
Aber heute. Jetzt. Es ist so weit. Ich werde ihn sehen. Und meine Knie sind weich, wie beim ersten Mal.
Noch eine Türe, noch ein Schloss, ein langer, enger, schlecht beleuchteter Gang. Aber dann, am Ende dieses Ganges…
Therese findet sich nicht, wie erwartet in einem Besucherraum wieder, sondern zu ihrer Verwunderung in einem Büro. Neonbeleuchtet, kahl, ein mintgrün, das sie ans Krankenhaus erinnert. Sie kennt sich nicht aus und in ihr steigt eine Unruhe auf, die sie auf dem kalten Stuhl herumrutschen lässt.
Was sagt Großmutter immer, sitz still! Und mach die Tür zu, wenn du gehst… Jamie, Jamie, Jamie!
Der Mann ihr gegenüber hinter seinem Schreibtisch ist offensichtlich ein nach Worten suchender Beamter. Er runzelt die Stirn als er beginnt:
„Mir bleibt nur mehr die Aufgabe Ihnen die Mitteilung zu machen, dass sie James heute leider nicht mehr sehen können.“
Dann drückt er Therese unvermittelt einen klein gefalteten Zettel in die Hand:
„Diese Nachricht ist alles, was ich für sie habe!“
Das Blatt in Händen schaut Therese ungläubig zuerst den Mann, dann das Papier an. Langsam faltet sie es auseinander. Ein großes, weißes Blatt auf dem steht:
Superman kommt zu spät!
© Christine A.
Schweißtreibend
von Ursula Zöttl
Er war einer Frau noch nie näher gekommen, als man seiner Mutter gemeinhin kommt, wen man ihr den Rücken eincremt, etwa mit Sonnenmilch an einem Badetag. Oder auch mit Kampfersalbe gegen ihre Rückenschmerzen. Andere Erfahrungen mit dem weiblichen Geschlecht waren rar, seine Mitschülerinnen hatten ihn im besten Fall ignoriert, der Spitzname Lawine war ihm nach jenem Skikurs geblieben. Einzelne hatten ihn richtiggehend gemieden, auch wenn er sich bemüht hatte, so rücksichtsvoll zu sein wie gegenüber seiner Mutter. Das war es offensichtlich nicht, was sie sich wünschten. Im Tanzkurs, in den ihn seine Mutter gegen seinen Willen geschickt hatte, hatte er Mühe gehabt, die Grundposition für geschlossene Tänze einzunehmen. Ihm war schlicht seine Leibesfülle im Weg gewesen. Auch schwitzte er schnell und trat einmal einer Tanzpartnerin, die ihm der Tanzlehrer zugeteilt hatte, so kräftig auf den Fuß dass sie sich noch tagelang danach bei ihren Freundinnen, die leider auch in seine Klasse gingen, beklagte. So wurde „unter die Lawine kommen“ zum geflügelten Wort. Manchmal, wenn sie in einer Ecke standen und tuschelten, fragte er sich, ob sie wohl über ihn herzogen, und gab sich Mühe, ihnen keinen Anlass dazu zu bieten.
In ein etwas molliges Mädchen aus der Nachbarklasse, das sich im Tanzkurs zumindest nicht über ihn lustig gemacht hatte, hätte er sich beinahe verliebt – bis er bemerkt hatte, dass sie genau jenen Muskelprotz anhimmelte, der ihm an Skikurs am übelsten mitgespielt hatte. So hatte er schnell diese aufkeimenden Gefühle unterdrückt.
Als er die Türe öffnete, die zu seinem Pensionszimmer führte, wurde ihm mit einem Schlag bewusst, dass auch dieser Raum, dieses Mobiliar nicht für ihn gemacht war: das schmale Bett – eigentlich waren es zwei, aber da er ein Einzelzimmer gebucht hatte, war das zweite mit einer Tagesdecke verhüllt und im Übrigen nicht breiter als das erste – , der winzige, runde Tisch mit dem für ihn filigranen Stuhl, der noch dazu Armlehnen hatte, das hieß, er würde sich nicht darauf setzen können, sein Körper würde nicht hineinpassen. Er sah sich um und seufzte. Auch auf dem Balkon fand sich ein solcher Tisch mit zwei Sesselchen, diese ohne Armlehnen, dafür mit erbärmlich kleiner, geflochtener Sitzfläche. Wenn er beide nebeneinander stellte, bestand immerhin die Möglichkeit, sich darauf niederzusetzen, sehr vorsichtig zwar, aber immerhin. Dem Bett aber misstraute er.
Schon einmal war ein Hotelbett unter der Last seiner damals hundertzwanzig Kilogramm zusammengebrochen, damals war er noch ein Jugendlicher gewesen, auf Wintersportwoche, seine Zimmergenossen hatten vor Lachen gebrüllt. Bilder aus jenem Skikurs stiegen in ihm auf, er zum ersten Mal auf Skiern, letzte Gruppe natürlich, mit dem Lehrer waren sie zu viert gewesen. Im Nu hatte er sich in eine rollende Schneekugel verwandelt, von dem dunkelroten Skioverall, den seine Mutter ihm gekauft hatte, war nichts mehr zu sehen gewesen. Von da an trug er den Spitznamen „Lawine“. Wenn er zum Frühstücksbuffet schritt, wenn er das Zimmer in Richtung Dusche verließ, immer grölten die Klassenkameraden – und auch die Mädchen -: „Die Lawine kommt!“
Er beendete den Rundgang durch das mittlerweile recht warme Pensionszimmer – die Sonne stand schon hoch und schien herein -, strich sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn, wie um diese Gedanken zu verscheuchen, und ließ sich sehr vorsichtig auf das mit der Tagesdecke bedeckte Bett nieder. Es ächzte unter ihm.
Sich irgendwie Abkühlung verschaffen. Er nestelte mit schweißnassen Händen an den Knöpfen seines gestreiften Hemds, zog es schließlich über den Kopf, hängte das feuchte Stück über das Balkongeländer, die Aussicht auf die Pinien und das Meer nahm er nicht wahr. Auch das Badezimmer war kleiner als zu Hause. Er kämpfte mit dem Duschvorhang, den er mit seinem massigen Leib ständig aus der Duschtasse drängte, der Temperierung des Wassers, das ewig warm blieb, dann flutschte ihm das Seifenstück aus der Hand. Diese Hotelseife roch intensiv nach Rosen, er bemerkte es und Bilder seiner Mutter stiegen in ihm auf. Sie hatte Rosen geliebt, gelbe wie rote, und für sie, für ihr Begräbnis hatte er einen großen Kranz davon bestellt. Das war jetzt gut ein Jahr aus. Als er das glitschige Seifenstück endlich über dem Ausguss erwischt hatte, schwitzte er schon wieder. Wie sollte das in dieser heißen Gegend weitergehen? Er war achtunddreißig, er war zum ersten Mal am Meer und zum ersten Mal allein auf Urlaub.
Ich weiß, dass er nie jemanden in die Wohnung mitbringt. Ziemlicher Vertrauensbeweis, könnte man sagen. Naja, wir sind schon Nachbarn, seit Rolf zur Welt gekommen ist. Damals war auch mein Mann noch am Leben, und Rolfs Vater lebte auch noch hier. Also darf ich jetzt zwei Wochen lang die Blumen gießen, Thereses Blumen eigentlich, die der gute Rolf noch immer alle hegt und pflegt. Und ich soll die Post aus dem Briefkasten holen. Viel wird das ja wohl nicht sein, ein paar Rechnungen und die Werbung halt.
Nach wie vor der gestreifte Läufer im Vorraum, die Garderobe wie vor vierzig Jahren. Auch die Strickjacke von Theres hängt noch da, als wär sie eben kurz zum Einkaufen gegangen. Wieso gibt er die nicht weg? Seine Alltagsschuhe, die braunen, mit denen er ins Büro geht, neben ihren ausgetretenen Pantoffeln.
In der Küche soll ich die Kräuter gießen, die am Fensterbrett, hat er gesagt. Kerbel, Dill, Estragon, Schnittlauch, Petersilie. Am Haken in der Ecke hängt noch immer die geblümte Schürze, ob er die wohl auch beim Kochen trägt? Wie viele Kochbücher sie haben, eine ganze Stellage voll, offenbar alphabetisch gereiht.
So, das Wohnzimmer. Einen neuen, größeren Fernseher hat er angeschafft, seit Theres tot ist. Immerhin. Sie hatten ja noch den alten Röhrenfernseher bis zum Schluss. Und die Spitzendeckerl sind weniger geworden. Sonst: alles beim alten. Plüschiges Ausziehsofa in Dunkelgrün – Theres hat hier bis zum Schluss geschlafen -, der Furnier-Couchtisch, der rustikale Einbauschrank, ein paar DVDs mehr sind jetzt in den Regalen.
Ich soll die Geranien auf dem Balkon gießen, die er so wie seine selige Mutter jedes Jahr hat, und die Azalee auf dem Fensterbrett. Steht alles auf der Liste, die er geschrieben hat. Ich mache ein Hakerl für jeden Tag in die Tabelle, die er mir dafür gemacht hat. Muss ich eigentlich in sein Schlafzimmer gehen? Ist mir fast ein bisschen peinlich. Blumen dürften keine drin sein. Einen Blick riskiere ich… Es sieht eher aus wie ein Kinderzimmer, Flugzeugmodelle im Regal, ein Einzelbett natürlich, aber etwas breiter und stabiler sieht es aus. Recht ordentlich hier, muss man sagen.
Arbeitszimmer noch… Usambaraveilchen. Wenig gießen. Ein Hakerl. Die Ordner im Schrank, die privaten Kunden wahrscheinlich, die er betreut, alles in Reih und Glied.
Damit wär ich fertig. Post kommt ja am Sonntag keine.
Schon als Kind hatte er gerne und viel gegessen. Das war zu einer Zeit gewesen, als noch nicht alle Welt ständig von Diäten und gesunder Ernährung geredet hatte, zumindest nicht in dem kleinen Ort, in dem er aufgewachsen war. „Er ist ein guter Esser“, sagten die Leute, „das Kind hat einen gesegneten Appetit.„ „Es ist eine Freude, für ihn zu kochen“, sagte seine Mutter, die sich in einfallsreichen, üppigen Speisen verwirklichte. Sie war eine füllige, wenig auf ihr Äußeres bedachte Frau, ihr Mann war früh von der Bildfläche verschwunden, man wusste nicht recht, wohin. Rolf hatte keine Erinnerungen an ihn. Wenn er seine Mutter nach ihm fragte – als Kind tat er das noch manchmal – antwortete sie einsilbig: er habe ein einer anderen Stadt Arbeit gefunden, weit weg. So stellte Rolf sich ihn immer bei der Arbeit vor, einmal in einem Bergwerk, ein andermal als Lokomotivführer, dann wieder als Piloten, je nachdem, womit eine kindliche Phantasie gerade beschäftigt war.
Nie kam er auf die Idee, der Vater könnte eine andere Frau kennengelernt, eine neue Familie gegründet haben.
Wenn Rolf als Kind von der Schule kam, stand seine Mutter in ihrem geblümten Haushaltskleid und den Pantoffeln in der Küche. Die gemeinsamen Mahlzeiten, das tägliche Ritual davor: was es wohl heute gäbe, ob er es am Geruch erkennen könne. War er mit den Hausaufgaben fertig, war es bestimmt Zeit für die Jause, den Kuchen, den seine Mutter gebacken hatte, oder andere Süßspeisen, Eis oder Cremes. Danach gingen sie bei schönem Wetter in den Park, bei schlechtem aber besahen sie Kochbücher, ihre gemeinsame Leidenschaft. „Was koche ich morgen“ war die große Frage, die Mutter nie loszulassen schien. Als Rolf zu verstehen begann, dass das Leben, auch Nahrungsmittel, Geld kostete, fragte er sie, woher denn dieses bei ihnen komme. Und so erfuhr er, dass sie jeden Vormittag bei der reichsten Familie im Ort putzte und das Mittagessen zubereitete, und er bewunderte sie dafür, dass sie so gut kochen konnte, dass das auch die vornehmen Leute zu schätzen wussten.
In der Schule war er mittelmäßig gewesen. Die Lehrer übersahen ihn vielleicht nur deshalb nicht, weil er so viel Platz brauchte, und darum saß er bald auch allein in einer Bank. „Auch gut“, dachte er, „dann hänselt mich keiner mehr.“ Wenn seine Mutter nachfragen ging, hieß es, er solle mehr Bewegung machen, vielleicht in einem Verein. Sie fragte ihn, ob er Fußball spielen wollte, aber Rolf wünschte sich keine anderen Kinder, er meinte, er wolle bei ihr bleiben, alles was er sich wünsche, sei ein Hund. Schließlich bekam er zu seinem neunten Geburtstag einen Goldfisch, der einsam in seinem Aquarium zwischen zwei Pflanzen und einer Keramikgrotte herumschwamm. Weil er Rolf leidtat, fütterte er ihn mit dem Fischfutter nicht einmal, wie auf der Packung vermerkt, sondern zwei- oder dreimal am Tag, heimlich natürlich. Das Wasser wurde trübe, die Mutter musste es nun häufiger wechseln, der Fisch kugelrund. Wenige Wochen später weinte Rolf an seinem Grab zwischen den Büschen im Hinterhof.
Was seine Mutter nie verstanden hatte: Er wäre auch ohne sie zurechtgekommen. Er hätte zumindest gern versucht. Solange sie lebte – das war immerhin lang genug, dass seine Jugend nun endgültig hinter ihm lag -, hatte sie für ihn gesorgt, und dies war ihr Lebensinhalt gewesen. Wenn er arbeitete – und er nahm sich nach Dienstschluss immer noch Steuerakten aus dem Büro mit nach Hause – war sie um ihn, kochte, brachte Saft und Kekse, als wäre er immer noch das Schulkind, das Hausaufgaben machte, später auch Kaffee statt Saft, auf sein Drängen hin. Wenn es spät wurde – oft arbeitete er bis Mitternacht – mahnte sie ihn, schlafen zu gehen. Seine Urlaube wurden gemeinsam geplant, im Sommer an die Kärntner Seen, im Winter zunehmend in Thermalbäder, wo sie Massagen in Anspruch nahm, der Rückenschmerzen wegen. Dass Rolf jemals ohne sie auf Urlaub hätte fahren könnte, schien undenkbar. Freunde hatte er schließlich keine, hatte nie welche gehabt, wie also sollte er seine Freizeit verbringen, wenn nicht mit ihr?
Er wollte sie nicht im Stich lassen, wollte ihr durch die gemeinsam verbrachte Zeit für das danken, was sie all die Jahre für ihn getan hatte. Einmal hatte er einen zaghaften Versuch gewagt und vorgeschlagen, sie könnte im Winter in eines ihrer geliebten Bäder fahren, er würde währenddessen gerne einmal fliegen, vielleicht eine Woche nach Ägypten, ein Land, dessen Geschichte ihn faszinierte. Sie hatte derart entrüstet reagiert, er könne sie doch nicht im Stich lassen, sie sei nicht mehr die Jüngste, und was er denn im Ausland wolle, dort würde man sich nur Krankheiten holen – da hatte er es lieber gelassen.
Die verführerischen Plakate des Reisebüros, an dem er jeden Tag auf dem Weg in die Kanzlei vorüberging, waren Schuld. Diese Bläue, der Sand, antike Ruinen… Es war Griechenland geworden, er wollte endlich ans Meer, und sicher vor Attentaten fühlte er sich hier auch.
Er hatte den Kofferinhalt feinsäuberlich in den Schrank geräumt und zog das erste der vierzehn gestreiften Hemden vom Haken, für jeden Tag eines. Es durfte über den Shorts außen getragen werden, ein Zeichen dafür, auf Urlaub zu sein.
Eigentlich könnte er ja jetzt dieses Dorf etwas anschauen, bei der Gelegenheit etwas zu Mittag essen gehen… Ob man hier die Läden schließen und die Glastür zusperren musste, wenn man das Zimmer verließ? Nicht, dass er viel Wertvolles mitgehabt hätte. Aber er ging lieber auf Nummer Sicher.
Die Sandalen zu schließen, ohne sich niedersetzen zu können, erschien ihm erst unmöglich, aber da er vor der Tür keine Sitzmöglichkeit vorfand, schaffte er es auch so, ächzend. Der Schweiß lief ihm über den Rücken.
Der staubige Weg entlang dieser Hauptstraße, die in den Ort führte, Sand in den Sandalen, er hätte doch lieber die Socken weglassen sollen. Viel Verkehr und kein Gehsteig, eine gefährliche Sache, vermutlich war kein Geld dafür da. Die erste Taverne schien ihm wenig einladend, er studierte die Speisekarte auf Deutsch, wenigstens verstand er so, was es gab. Aber das Lokal gefiel ihm dennoch nicht. Wieder so ein Raser. Und heiß war ihm. Weit würde er das nicht mehr schaffen. Vor ihm ein Supermarkt, vielleicht eine Flasche Wasser kaufen… Cola wäre auch gut. Jetzt konnte ihm seine Mutter das nicht mehr verbieten.
Viel Krimskrams und Tücher, wer brauchte das alles. Die Getränke wie immer ganz hinten. Das Cola war auch teurer als zuhause, nun, man war ja auch auf einer Insel hier. Eigentlich waren noch wenige Leute unterwegs, na, die gingen wohl später essen. Er musste ein Restaurant finden, das ihm zusagte.
Die Taverne mit der weinumrankten Pergola erschien ihm wie eine Oase in der Wüste. Rolf schwankte leicht und stützte sich mit der Hand an einem Pfeiler ab. Eine dunkel gekleidete Frau mittleren Alters grüßte ihn auf Griechisch und fragte dann auf Englisch, ob er sich nicht wohlfühle. „Just a bit too hot“, stammelte er entschuldigend. Sie streckte ihm den Arm entgegen, um ihn zu stützen, aber er nahm ihn nicht – er konnte sich dich nicht von einer völlig Fremden anfassen lassen, auch wenn sie hier die Wirtin zu sein schien. Im Schatten, direkt unter dem Ventilator, tauchte er aus dem Schwindelgefühl auf wie ein Schwimmer. „You want something to eat?“, fragte ihn die Frau jetzt und er registrierte die sehr dunklen Augen, die ihn voll Mitgefühl ansahen. Wie früher seine Mutter trug sie das Haar zu einem Knoten gesteckt, erste Silberfäden waren in dichtem Schwarz zu sehen. Er studierte die Speisekarte, wischte sich mit dem Stofftaschentuch über die Stirn und ertappte sich bei dem Wunsch, auf einem stabilen Bett zu liegen, sie auf einem Stuhl neben ihm und ihm und ihm den Schweiß abtupfend, wie seine Mutter früher, wenn er krank war. Oder vielleicht doch besser: auf der Bettkante neben ihm sitzend. Abrupt sah er zu ihr hoch, erschrocken über seinen Tagtraum. Das musste diese Hitze sein. Hoffentlich konnte sie seine Gedanken nicht lesen. Ja, er war hungrig. Deshalb sei er ja aufgebrochen, erklärte er in ungeübtem Englisch. Sie empfahl etwas Leichtes, Salat, er folgte willig ihrer Empfehlung, erstaunt über sich selbst.
Wenig verwunderlich, dass er nach einer Siesta am Strand – die Liegestühle waren so robust, wie sie aussahen – nur kurz duschte und hungrig zu ihr zurückkehrte. Nun breitete sie die ganze Vielfalt ihrer Kochkünste und der ihrer Mutter vor ihm aus: Moussaka und Gyros, Briam, Souflaki und Schwertfisch – Steaks, für die er sich, wieder ihrer Empfehlung folgend – schließlich entschied. Auch auf ein Dessert verzichtete er, ganz gegen seine Gewohnheit, plötzlich war ihm seine Figur nicht mehr ganz so gleichgültig. Er konnte auch mit einer Flasche Wasser und etwas Melone den ganzen Abend unter dem Ventilator sitzen und ihr nachsehen, wie sie Bestellungen aufnahm und kassierte, den obligatorischen Schnaps brachte, dessen Namen er nicht verstanden und den er nicht getrunken hatte. Er sah, dass sie zunehmend langsamer ging, je mehr der Abend fortschritt, fast ein wenig gebeugt, und es rührte ihn.
Dem einen Abend folgen zwei weitere, an denen er sich bei Xenia von Fisch und Salat ernährte, ihren Blick suchte, sich freute, wenn sie auf einen kurzen Plausch bei seinem Tisch verweilte. Inzwischen wusste er, dass die junge Servierkraft ihre Tochter war und ihre Mutter in der Küche stand. Viel mehr aber auch nicht.
Nachts lag er am Rücken auf den beiden Betten, die er aneinandergeschoben hatte, blickte auf den vor ihm liegenden Hügel unter dem weißen Leintuch und wartete auf den Schlaf. Sein Magen knurrte. Weshalb hatte er nicht mehr gegessen? Er sah Xenia vor sich, nun wusste er ihren Namen und dass sie Witwe war, und fragte sich, wie alt sie wohl war und ob sie auch allein und schlaflos in ihrem Zimmer lag. Ach, was geht dich das an, schalt er sich dann, du mit deinen hundertdreißig Kilo, wenn sie freundlich mit dir ist, dann vielleicht aus Mitleid.
Als er merkte, dass ihn die Gedanken an ihren Blick, ihre kräftigen Arme und die geschickten Hände nicht losließen, beschloss er, am nächsten Abend in ein anderes Lokal zu gehen.
Im lauwarmen Wasser treiben, immer in Angst vor dem Sonnenbrand. Dann ein Nickerchen im Liegestuhl, eine Weile in den Krimi vertieft, oder zumindest diesen Anschein erwecken, die Mittagszeit mit etwas Obst und Käse im Zimmer, seine Fülle war ihm mittlerweile peinlich. Der Tag wurde ihm lang. Endlich, nach einer weiteren ausgiebigen Dusche, schlüpfte er in eines der gestreiften Hemden. Wohin essen gehen, wenn nicht zu Xenia? Es überlief ihn heiß, wenn er an sie dachte, und er kam sich wieder vor wie ein Schuljunge. Um in die einzige andere Taverne zu gelangen, die ihm einigermaßen ansprechend erschienen war, musste er an ihr vorbei.
Er drückte sich den neuen Borsalino tiefer ins Gesicht. In seinen Krimis hieß es immer, dass man langsam gehen sollte, um unauffällig zu sein. Also schlenderte er auf der gegenüberliegenden Straßenseite dahin und bemüht sich, Interesse an Strandtüchern und Badeschuhen zu mimen. Sah sie womöglich zu ihm hin? Sein Herz pochte wie damals in der Tanzschule, als er sich für das mollige Mädchen interessiert hatte, und der Schweiß brach ihm aus, als er an seine Schwärmerei, die Hoffnungen, seine Vorstellungen von ihrem rundlichen Körper dachte. Er wischte sich über die Stirn, zufällig war er bei den Sonnenbrillen des Souvenierstandes gelandet, vor einem Aufsteller mit großem Spiegel. Zufällig blickte er hinein, als er sein Taschentuch wegsteckte, und sah darin den Eingang von Xenias Taverne. Er erstarrte. Ein Mann, offenbar Grieche und in ähnlichem Alter wie sie, umarmte sie und blieb, den Arm um sie gelegt, neben ihr stehen. Rolfs Hand krampfte sich um das Taschentuch, er spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Sie schien erfreut, lächelte und sah dem Mann in die Augen. Dieser strich ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht.
Rolf hatte genug gesehen. In einer unkontrollierten Bewegung machte er einen Schritt nach hinten, stolperte, warf dabei den Kleiderständer mit den Strandtüchern fast um, drohte den Hut zu verlieren. Er fing sich, drückte den Borsalino nieder und versuchte so schnell wie möglich wegzukommen, wobei er ein Kleinkind beinahe umrannte. Nur weg von hier.
„Ich kann kein Essen mehr sehen. Nichts mehr mit Öl. Hätte ich doch bloß diese neue Taverne nie ausprobiert!“
Sein Bauch schmerzte, er lag in Embryostellung auf dem Bett, stöhnte über die Hitze und fühlte sich zugleich entsetzlich allein. Er dachte an seinen Vater, den er vermutlich nie kennenlernen würde. Xenia. Scham und Wut mischten sich in ihm zu einem faustgroßen Klumpen in der Magengegend, wie hatte er sich nur einbilden können, dass sie an ihm Interesse hatte – er sollte sie unter keinen Umständen mehr wiedersehen. Die Fäuste geballt, erst regungslos, dann schluchzend lag er wach, bis der erste der vielen Hähne krähte.
Sich totstellen. Nie mehr aus dem Zimmer gehen.
Aber dann, am späten Vormittag, bekam er doch Hunger, und im Supermarkt gab es salzigen Zwieback und Cola.
Beim Gemüsehändler fand er sich am übernächsten Tag ein, sich Tomaten, Zwiebel, Gurken zu kaufen, um sich selbst Salat zu richten. Das Zimmer hatte glücklicherweise eine Kochnische. Keine Taverne mehr für ihn. Wozu kann man schließlich kochen. Wenngleich kalte Küche ausreichen wird. Er ist auf niemanden angewiesen. Seiner Linie wird es auch guttun.
Die kleinen Kirschtomaten oder doch lieber die Fleischtomaten? Von dem roten Paprika auch noch. Er nimmt einen weiteren Papiersack vom Stapel, als er hinter sich zwei Leute Griechisch sprechen hört, einen Mann und eine Frau. Die Stimme kommt ihm bekannt vor. Er spürt sein Herz pochen. Xenia. Und dieser Mann, ihr Mann! Er dreht sich auf der Stelle um, drei Schritte und er ist beim Ausgang. Das Gemüse muss er jetzt nicht nehmen, er wird sich später noch etwas holen… den Sack irgendwo abstellen…nur weg hier. Er atmet heftig. Schon wieder rinnt ihm der Schweiß über den Rücken, dabei läuft hier der Ventilator.
Was will sie, stellt sie mir jetzt auch noch ihren Mann vor? Sie verstellt mir den Ausgang. Wieso lächelt sie mich so an, freut sie sich gar?
„Hello Rolf, nice to meet you, may I introduce my brother Nicos to you?“… Was, ihr Bruder? Ist das die Möglichkeit? Na, eine gewisse Ähnlichkeit, die Nase, die Augen… Ich muss ihm die Hand geben… die ist jetzt bestimmt schweißnass. „Nice to meet you, too!“…
Sie fragt mich, warum ich in den letzten Tagen nicht gekommen bin, was soll ich sagen… Nicos scheint das zu amüsieren, er schmunzelt… Gott mir ist heiß und kalt… sie schaut mich so an… ich sag, dass ich mich krank gefühlt hab… „Maybe we can invite you for dinner?“ Nicos lächelt so seltsam, sie muss ihm von mir erzählt haben… natürlich komme ich gerne, aber vielleicht kann ich sie einladen, aber sie kann ja nicht aus dem Restaurant weg – ach… wie mach ich das nur richtig, vielleicht kann ich mich irgendwie nützlich machen, Xenia hat doch immer so viel zu tun.
Rolf hat mich, die liebe Nachbarin, gestern schon wieder angerufen. Ich soll seine Blumen – bitte! noch eine weitere Woche gießen. Die Kräuter könnte ich verwenden. Tja, der Schnittlauch ist schon ausgewachsen. Jetzt ist er schon einen Monat weg. Kann mir nicht vorstellen, dass sein Chef in der Steuerkanzlei begeistert ist. Na, ist nicht meine Sache. Klar, ich gieße weiter, ich hab ja Zeit. Ich bin bestimmt nicht neugierig, aber was da wohl dahintersteckt?
Salbei, Thymian, Oregano. Und noch ein Gewürz, dessen Namen er nur auf Griechisch kannte. Viel Zwiebel, Knoblauch, natürlich nur das beste Olivenöl, erste Pressung, er schmeckte mittlerweile den Unterschied. Die Hitze in der Küche spürte er kaum noch. „Rolf!“ – das war ihre Tochter aus erster Ehe, die servieren wollte, was er vor sich hatte und noch nicht auf den Tellern war. Überhaupt konnte er jetzt schon ein paar richtige Sätze auf Griechisch. Xenia sagte sie ihm langsam immer wieder vor, wenn gerade wenig zu tun war, Namen der Küchenutensilien und Zutaten.
Ihre Abrechnungen wollte er auch irgendwann einmal in Ordnung bringen, falls das nicht indiskret war, aber er hatte den Eindruck, dass es da noch einiges zu tun gab für ihn als Steuerberater. Aber dazu musste er noch besser Griechisch Lesen und Schreiben lernen.
Und er hatte gelernt, dass sie es mochte, wenn er ihr die feuchten Ringellocken aus dem Nacken blies. Er traute sich noch nicht, sie zu küssen, aber vielleicht brauchte das auch noch Zeit. Ohnehin begann er zu schwitzen, wenn er sich noch größere Nähe zwischen ihnen vorstellte.
Ziga, ziga.
© Ursula Zöttl
Clara
von Ulrike Schöberl
Insgeheim sammelte ich damals Eindrücke, kategorisierte sie, bewertete sie, verdrehte sie, untersuchte sie, sezierte sie. Ich war den ganzen Tag beschäftigt. Was tatsächlich passierte, vor meiner Nase, unter meinen Augen, das entging mir jedoch häufig. Denn in meinem Kopf drehte sich jeden Tag das gleiche Karussell aus Fragen und Bewertungen: was will sie von mir, warum hat er das gesagt, ist ihm das überhaupt recht, was wird von mir erwartet, ist das meine Schuld, was hat das mit mir zu tun? Das war im Grunde der Punkt, um den es immer ging, ich konnte nicht glauben, dass irgendetwas nichts mit mir zu tun haben könnte. Und deshalb bezog ich alles auf mich und nahm selbst die absurdesten Dinge persönlich, weil ich es nicht besser wusste.
Ich knüpfte mir ein Sicherheitsnetz aus Wissen, aus Fakten. Wenn ich nur über alles Bescheid wüsste, wenn nicht die klitzekleinste Lücke bliebe, dann könnte mir nichts passieren. Natürlich ist mir heute klar, dass das eine Illusion war, der verzweifelte Versuch, Dinge unter Kontrolle zu halten, die nicht zu kontrollieren sind. Und an dem Tag, als sie in mein Leben trat, als ich sie dort in der Tür stehen sah, da ahnte ich es, dass das gesamte Kartenhaus, das ich in den vergangenen Jahren um mich herum errichtet hatte, einstürzen würde. Natürlich wollte ich es nicht wahrhaben, denn das wollen wir nie. Und obwohl ich in den folgenden Monaten verzweifelt versuchte, die Dinge im Gleichgewicht zu halten, obwohl ich um jeden Preis das Sicherheit gebende Karussell in Bewegung halten wollte, war es ab diesem Moment ganz klar: es würde sich etwas verändern.
September
Als sie sich von ihren Großeltern verabschiedet hatte, und die Zimmertür erreichte, spürte sie ihr Herz klopfen, sie drehte den Schlüssel herum und merkte, wie sich Erleichterung in ihr ausbreitete: Miriam war noch nicht zurück. Clara war froh gewesen, zwei Tage wegzukommen, heimzufahren, die neue Umgebung einfach zu vergessen und die vielen neuen Eindrücke, die auf sie eingestürmt waren, zu verarbeiten. Es war nicht so, dass sie ihre Zimmerkollegin nicht sympathisch fand, aber ständig jemanden um sich zu haben, sich nie zurückziehen zu können, das war Clara nicht gewöhnt und es strengte sie an. Dazu kam, dass sie sich in Miriams Gegenwart, ihrer lockeren Selbstsicherheit, ihrer Offenheit, die Clara oft als distanzlos empfand, ein wenig unwohl fühlte. Manchmal fiel es Clara schwer zu glauben, dass sie gleichaltrig waren, so groß erschien ihr in diesen Momenten der Vorsprung, den Miriam ihr gegenüber zu haben schien. Miriam schien zu allem eine Meinung zu haben, es schien kein Thema zu geben, das ihr peinlich oder unangenehm war und Clara hatte zu ihrem Entsetzen festgestellt, dass es Miriam gar nicht aufzufallen schien, wenn sie selbst über etwas nicht reden wollte oder konnte. Sie fragte unbekümmert immer weiter und Claras hilflose Versuche, einem Gespräch eine andere Richtung zu geben, prallten einfach an ihr ab.
Clara rollte ihren Koffer in die Zimmerecke, auspacken konnte sie auch später noch. Im Moment verspürte sie nichts als den Wunsch, sich gründlich im Raum umzusehen. Die beiden Zimmerhälften wirkten bereits nach einer Woche so unterschiedlich, dass man sich kaum mehr vorstellen konnte, dass sie letzten Sonntag, als sie beide angekommen waren, völlig identisch ausgesehen hatten: ein Schreibtisch, ein Bett, ein Schrank, ein Regal links, der gleiche Schreibtisch, das gleiche Bett, der gleiche Schrank, das gleiche Regal rechts. Während Miriams Seite – die rechte – bereits von Dingen überquoll, wirkte Claras eigene Hälfte seltsam steril, eigentlich viel zu aufgeräumt. Hatte Miriam bereits am ersten Tag Plakate und Fotos aufgehängt, so hatte Clara sich mit einem einzigen Poster begnügt, der Reproduktion einer Lithografie des niederländischen Malers Maurits Escher. Clara hatte es von ihrem Onkel zum Geburtstag geschenkt bekommen und war von der optischen Illusion, die darauf kreiert wurde, von Anfang an gefesselt gewesen. Die Treppen, die darauf gezeigt wurden, führten gleichzeitig überall und nirgendwo hin, immer wenn man glaubte, sicher zu sein, dass eine Treppe nach oben führte, brauchte man nur die Perspektive zu wechseln und hatte plötzlich den Eindruck, dass es eigentlich nach unten ging. Das Bild mit seinen vielen unterschiedlichen Möglichkeiten und Perspektiven verwirrte Clara und ließ sie doch nicht los, so oft sie es auch betrachtete, hoffte sie, dass sich dieses Mal das Chaos lichten und sie sich für eine Sichtweise entscheiden können würde. So erging es ihr auch an diesem Sonntagabend, und wie immer versank sie völlig in der Betrachtung des Bildes, so dass sie zusammenzuckte, als die Tür aufgerissen wurde und Miriam ins Zimmer stürmte.
Februar
„Jetzt komm schon!“, hörte sie Miriam rufen, „wir kommen sonst zu spät!“ Clara dachte immer noch, dass es keine gute Idee war, zu der Party zu gehen. Zuhause hatte es kaum Partys gegeben, aus einem ganz einfachen Grund: es gab zu wenig Jugendliche in dem kleinen Dorf, aus dem sie kam. Natürlich hatten sie sich ab und zu abends getroffen, gemeinsam gegessen oder ferngesehen, und einmal hatte Sonja bei ihren Eltern eine Flasche Schnaps mitgehen lassen, an der sie reihum gnippt hatten. Aber die richtigen Partys fanden in der Bezirkshauptstadt statt, in der Clara bis jetzt zur Schule gegangen war, was bedeutete, dass die Großeltern sie hinbringen und abholen hätten müssen. Und daran war es gescheitert. Claras Großeltern hatten keine Lust, sie abends hinzubringen und noch weniger Lust, sie spätnachts wieder abzuholen. Clara hatte vorgeschlagen, dass Sonjas Mutter sie mitnehmen könnte, doch auch dagegen hatten die Großeltern tausend Einwände gehabt: Sonja werde immer erst so spät abgeholt, so lange dürfe Clara gar nicht wegbleiben; Sonjas Mutter sei so unzuverlässig und überhaupt solle Clara sich lieber auf die Schule konzentrieren und so weiter und so fort. Und schließlich war sie auch kaum mehr eingeladen worden, da ohnehin keiner mehr damit rechnete, dass sie kommen würde. Seufzend trat sie aus dem winzigen Badezimmer in den kleinen Vorraum, in dem Miriam bereits fix und fertig dastand und auf sie wartete. „Ähm, ist das dein Ernst?“, fragte sie in der ihr eigenen direkten Art, an die Clara sich nicht und nicht gewöhnen konnte. „Dir ist schon bewusst, dass wir zu Simons Geburtstagsparty gehen und nicht in die Schule, oder?“ Clara schwieg. Es war nicht so, dass sie die Jeans und den Pullover, den sie trug, bewusst für diesen Anlass ausgesucht hätte. Vielmehr war es so, dass ihr Kleiderschrank nichts anderes hergab als eben Alltagskleidung und ein oder zwei sehr festliche Stücke, die ihr für die Party dann doch übertrieben erschienen waren. Ihr Blick wanderte zu Miriam, die zu einem kurzen schwarzen Rock ein blau gemustertes Oberteil trug, dessen Farbe das Blau ihrer Augen noch intensiver wirken ließ als sonst. Sie hatte die Haare hochgesteckt und es geschafft, mit ein bisschen Make-up und Lipgloss ihr Gesicht zum Strahlen zu bringen. Miriam sah auf die Uhr. „Naja, darauf kommt es nun auch nicht mehr an“, murmelte sie, während sie ins Zimmer zurück ging, ihren Kleiderschrank öffnete und kurz nachdachte. „Probier das mal!“, sagte sie und hielt ihr ein enges, dunkelrotes Kleid entgegen, „das sollte funktionieren.“ Fünfzehn Minuten später blickte Clara aus dem Spiegel eine junge Frau entgegen, die sie so noch nie gesehen hatte. „Na also, geht doch“, bemerkte Miriam zufrieden. „Und jetzt komm, wir sind verdammt spät dran.“ Clara lag noch ein Satz auf der Zunge, doch Miriam war bereits zur Tür hinaus.
Die Musik war viel zu laut und Clara hatte das Gefühl von völliger Unwirklichkeit. Das Licht erschien ihr zu grell, dann wieder zu schwach und sie sehnte sich nach fünf Minuten Ruhe, nach einem Platz, an dem sie sich ein wenig beruhigen und ihre heißen Wangen abkühlen konnte. Die Toilette war besetzt, also probierte sie es im Badezimmer. Sie schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf den Rand der Badewanne, drehte das kalte Wasser auf und kühlte ihr Gesicht. Als sie sich einigermaßen beruhigt hatte,warf sie einen Blick in den Spiegel. Das Make-up, das Miriam ihr an diesem Abend gemacht hatte, schien ihr noch ebenso fremd und unpassend wie vier Stunden zuvor, die Augen wirkten zu groß, die Wangen zu rosa, die Lippen zu rot. Einem Impuls folgend hielt Clara ihr Gesicht unters Wasser. Der Ärger über Miriam, die für ihr verändertes Aussehen verantwortlich war, entlud sich plötzlich, indem sie die ungewohnte Schminke so energisch aus dem Gesicht rubbelte, dass es weh tat. Was hatte ihr dieses neue Aussehen schon gebracht? Einen lästigen Verehrer und das Gefühl, nicht mehr sie selbst zu sein, sondern einer anderen, neuen Clara dabei zuzusehen, wie sie sich lächerlich machte. War sie dafür ins Internat gekommen? Die Großeltern sparten, damit sie hier zur Schule gehen konnte, und sie hatte versprochen, fleißig zu sein, und was tat sie nun? Sie verwendete ihre Zeit auf Dinge, die absolut nutzlos waren, sie war eines von den Mädchen geworden, die sie immer verachtet hatte, beschäftigt mit nichts als Kleidern, Schminke, Jungs. Sie hätte wahrlich Besseres an diesem Abend tun können, ihren Entwurf für das Hochhaus fertig bringen, ihr Referat überarbeiten. Das Quietschen der Badezimmertür riss sie aus ihren Gedanken. „Hier steckst du“, hörte sie Miriam sagen. „Ich such dich schon überall. Alles ok mit dir?“ Clara wusste nicht, was sie sagen sollte und versuchte, ihr Gesicht vor Miriam zu verbergen. Sie murmelte etwas Unverständliches und versuchte, an Miriam vorbei aus dem Badezimmer zu kommen. „Bist du böse auf mich? Ich hab ein paar Mädels aus der Parallelklasse getroffen und gedacht, du kommst gut allein zurecht…es hat ausgesehen, als würdest du dich mit Simon blendend verstehen!“ Miriams Stimme hatte bei ihren letzten Worten einen halb belustigten, halb anzüglichen Klang angenommen, der Clara endgültig aus der Fassung brachte. „Wenn du es genau wissen willst, ja, ich komme auch gut ohne dich zurecht, herzlichen Dank!“, zischte sie. „Ich bin weder auf deine Garderobe angewiesen, noch auf deine Schminksachen, aber schon klar, du hast von beidem so viel, dass du allein gar nicht alles verwenden kannst! Und wie würde das denn aussehen, die schöne, coole Miriam und ihre Freundin, die graue Maus…das wäre doch zu peinlich für dich! Nur deshalb hast du doch dieses Theater mit mir veranstaltet, glaubst du, ich merke das nicht?“ Clara wartete auf eine Entgegnung, sie hatte sich in Rage geredet und war bereit, Miriam alles an den Kopf zu werfen, was sie sich im letzten halben Jahr nur gedacht hatte. Doch Miriam schwieg. Als Clara es wagte, ihr in die Augen zu sehen, merkte sie, dass Miriam einfach nur traurig und verletzt aussah und ihr Ärger verschwand so schnell, wie er gekommen war. Plötzlich fühlte sie sich den Tränen nahe. „Lass uns heimfahren“, sagte Miriam, „es ist schon spät.“
Miriam bezahlte den Taxifahrer und sie betraten das Gebäude und stiegen in den dritten Stock hinauf. Clara war froh, dass sie nicht den Aufzug nahmen, dessen Enge das Gefühl der Fremdheit, das sich zwischen ihnen ausgebreitet hatte, sicher nur verstärkt hätte. Sie schämte sich für den plötzlichen Ausbruch ihres Ärgers, den sie Miriam einfach so entgegengeschleudert hatte und sie wußte auch, dass viele der Dinge, die sie gesagt hatte, unfair und auch nicht einmal wahr waren. Miriam lag etwas an ihr und sie hatte ihr ehrlich helfen wollen, das konnte Clara auf einmal in aller Deutlichkeit sehen. Und dass sie Simon geküsst hatte an diesem Abend, dass sie seinen erfahrenen Händen kaum etwas entgegengesetzt hatte, das war in Wahrheit allein ihre Entscheidung gewesen. Das auf das Kleid und das Make-up zu schieben, war zwar bequem, entsprach aber letztlich einfach nicht der Wahrheit. Als sie das Zimmer betraten, verschwand Clara gleich im Bad, sie wollte nichts als Zähne putzen, ihren Pyjama anziehen, die Decke über den Kopf ziehen und schlafen. Als Miriam kurze Zeit später aus dem Bad kam, stellte sie sich schlafend, jetzt noch mit Miriam zu reden, war das letzte, was sie wollte. „Es tut mir leid“, hörte sie Miriam flüstern. „Es war wohl alles ein bisschen viel für dich. Simon hat mir gesagt, dass er dich geküsst hat und du plötzlich weg warst…also es tut ihm leid…“ Das wurde ja immer besser. Was ging Miriam das denn an? Clara fühlte die Tränen hochsteigen und diesmal gelang es ihr nicht, sie zurückzuhalten. „Clara“, flüsterte Miriam, „nimm doch nicht alles so schrecklich ernst…“ Sie fühlte die Freundin näher kommen und den Arm um sie legen. „Hat es dir denn nicht gefallen?“ Clara zuckte nur die Schultern. Hatte es ihr gefallen? Ja und nein…“Rutsch mal ein bisschen“, flüsterte Miriam, ehe sie sich zu ihr ins Bett kuschelte. „Ihm hat es bestimmt gefallen…mit dir…“ Clara konnte den Atem der Freundin fühlen, ihre weichen Hände, die ähnliche Dinge mit ihr machten wie Simon noch vor ein paar Stunden. Trotzdem hätte die Reaktion ihres Körpers nicht unterschiedlicher ausfallen können. War er bei Simon kontrolliert und ungerührt geblieben, konnte sie nun fühlen, wie er sich selbständig machte, wie er weich und nachgiebig wurde, die Haut die zärtlichen Berührungen in sich aufnahm, ihre Zunge sich von Miriams Zunge streicheln ließ, sich in ihrem Bauch ein neuartiges Kribbeln ausbreitete. Ihr Kopf, der ihr noch vor ein paar Stunden ständig gesagt hatte, dass es nicht richtig war, was sie da tat, dass man es nicht genießen durfte, dass man sehen musste, wo es hinführte, war plötzlich ausgeschaltet. Ihr Körper schien auf einmal ganz genau zu wissen, was er tun wollte und übernahm die Führung, alles erschien ihr in diesem Moment vollkommen natürlich und richtig. Ihre Gedanken standen still und machten Raum für ein ungewohntes, neues Gefühl: sie selbst zu sein.
April
„Wenn du mitten im Jahr das Zimmer wechseln willst, dann musst du mir schon eine bessere Begründung liefern“, sagte Dr. Wolf. „Du wirst doch einsehen, dass das einiges an organisatorischem Aufwand bedeutet, den wir nicht einfach betreiben wollen, ohne sicher zu gehen, dass es keine andere Möglichkeit gibt.“ Clara schwieg. Dr. Wolf betrachtete sie verstohlen und fragte sich zum hundertsten Mal, was wohl in ihrem Kopf vorgehen mochte. Clara war intelligent und fleißig, so weit konnte er sie mittlerweile einschätzen. Insgeheim war er überrascht, dass sie sich überhaupt so weit aus ihrer Deckung hervorgewagt und diesen Wunsch geäußert hatte. Noch mehr erstaunt hatte ihn allerdings der Wunsch selbst. Er hatte in den letzten Monaten den Eindruck gehabt, dass es der aufgeweckten Miriam durchaus gelungen war, an Clara heranzukommen, dass die beiden so verschiedenen Mädchen sich angefreundet hatten. Irgendetwas musste vorgefallen sein. Clara hatte jedoch offensichtlich nicht vor, ihren Wunsch näher zu erläutern. Sie schien sich bereits wieder vollkommen in ihr Schneckenhaus zurückgezogen zu haben. „Was sagt denn Miriam dazu?“, fragte Dr. Wolf. „Für sie ist es ok“, murmelte Clara. Das war zwar eine glatte Lüge, doch Clara vertraute darauf, dass Miriam, einmal vor vollendete Tatsachen gestellt, diese akzeptieren würde, ohne sich groß zu beschweren. Dr. Wolf sah auf seine Hände herab und überlegte. Es gab ein anderes Doppelzimmer, in dem echte Probleme zwischen den beiden Bewohnerinnen aufgetaucht waren. In diesem Fall war ohnedies bereits eine Trennung der beiden Mädchen angedacht. Wenn er Clara dorthin übersiedelte, wäre sein Dilemma mit einem Schlag gelöst. Trotzdem hatte er kein gutes Gefühl bei der Sache. „Ich sollte wenigstens kurz mit Miriam reden“, überlegte er, „und mir ihre Sicht der Dinge schildern lassen.“ Doch schließlich siegte seine Bequemlichkeit. Er hatte sich bereits 30 Jahre mit Jugendlichen und ihren Problemen herumgeschlagen. Manchmal war er einfach müde. „Die Sache geht in Ordnung, Clara.“, sagte er. „Du kannst ab nächste Woche mit Eva zusammen wohnen und Simone zieht zu Miriam. Lass dir aber gesagt sein, dass das eine einmalige Ausnahme bleiben wird. Wenn du dich in unsere Strukturen nicht einfügen kannst, solltest du besser woanders zur Schule gehen.“Als Clara Dr. Wolfs Zimmer verließ, erfasste sie der Schmerz ganz unvermittelt. Kurz wurde ihr schwarz vor Augen und sie musste sich konzentrieren, um weiterzuatmen. Doch dann tat sie, was sie immer getan hatte: sie schaffte Platz in ihrem Herzen, umgab den Schmerz mit einer steinernen Hülle und versenkte ihn dort. Sie war wieder die alte.
Ich bin heute überzeugt davon, dass es im Leben eines jeden Menschen Zeiten und Ereignisse gibt, deren Tragweite einem erst viel später bewusst wird. Die wenigen Monate, die ich damals mit Miriam verbrachte, machten – so pathetisch das klingen mag – einen anderen Menschen aus mir. Sie bauten mich um, zerlegten mich in meine Einzelteile, zersplitterten mich in 100 kleine Bausteine, Moleküle und Atome. Was davor fest einzementiert schien, war plötzlich in Bewegung geraten, und monatelang wusste ich nicht mehr, wo bei mir oben und unten, innen und außen, rechts und links war. Damals war meine Verzweiflung über diesen Zustand groß, ich kannte mich so nicht, hatte jeden inneren und äußeren Halt verloren und fürchtete nichts mehr, als dass ich mich nie wieder zusammensetzen würde können, dass ich für immer ein Bündel chaotischer Wünsche, Bedürfnisse und Sehnsüchte bleiben würde, dass ich nie wieder wissen würde, was ich wollte. Das Sicherheitsnetz war gerissen, das Karussell zum Stillstand geraten,und ich hatte mich noch nie in meinem Leben so verloren gefühlt.
Doch als die Wochen und Monate vergingen, wurde mir bewusst, dass ich auch Erleichterung empfand, dass eine ungeheure Anstrengung von mir abfiel, dass plötzlich Energien frei wurden. Miriam hatte mir gezeigt, wie das Leben auch sein konnte; hatte ich bis dahin fest an die eine, richtige Art sein Leben zu leben geglaubt, so stellte ich nun erstaunt fest, dass die Abwesenheit von inneren Zwängen mir auch ganz neue Wahlmöglichkeiten ließ. Seltsamerweise bemerkten die wenigsten meiner Mitmenschen diese leise Veränderung, doch für mich war es eine stille Revolution, und als ich nach vielen Monaten, die ich wie in großer Meerestiefe verbracht hatte, wieder auftauchte, war ich ein neuer Mensch: Clara.
© Ulrike Schöberl
Siebenundvierzig Jahre
von Ursula Zöttl
Sechs Jahre später
Ich traf sie im Stiegenhaus an, dem muffigen, nach Schimmel riechenden mit den krumm getretenen Treppenstufen, darauf der alte Läufer – wieso geben sie den nicht weg, wo sie doch so lang schon nicht mehr gut zu Fuß ist. Die Stiege ist vollgeräumt, links Katzenfutterdosen aneinandergereiht, rechts Kartons… irgendein Paket bringt der Postbote ja jeden Tag… aber ich bin ja nicht neugierig, was sie da immer bestellen… Mode in Übergrößen vermutlich, von jugendlich – Natty ist 16 – bis alt – Cäcilie ist keine Siebzig, kann aber kaum mehr auf den Beinen stehen.
Sie stand mit dem Rollator in der Tür, war wohl gerade heimgekommen, und blickte wie immer mit ein wenig schief gelegtem Kopf zu mir hoch, zu einem Plausch aufgelegt, und grüßte mich mit belegter Stimme, kicksende Laute dazwischen, die an ein junges Mädchen erinnerten. Was sie noch zu Hause mache, fragte ich, sie sei doch für die Operation im Krankenhaus vorgemerkt. Sie hatte sich ja schon zweimal von mir verabschiedet, jedes Mal so, als wäre es womöglich für immer.
Ein Notfall, sie hätten ihre Hüft-OP verschoben, um zwei Tage, am Montag werde sie ins Spital gehen. Ich konnte nicht lange mit ihr plaudern, die Kinder warteten auf mich, so verabschiedete ich mich von ihr, der die Angst ins Gesicht geschrieben stand, sie sagte es auch noch, und dann standen ihr auch schon Tränen in den Augen.
Ich hab sie seither nicht mehr gesehen. Wie mag sie gewesen sein, als sie jung war? ich wohne noch nicht lang genug hier, und die frühere Besitzerin meines Hauses kann ich auch nicht mehr danach fragen.
Ständig sammelte sie Zeitungsausschnitte, kleine und große, aus Illustrierten und Tageszeitungen. Alles über Stars und Berühmtheiten – natürlich nur, wenn es in irgendeiner Weise mit ihm zu tun hatte. Er blieb für Cäcilie immer der lächelnde, faltenlose Jüngling im weißen Anzug, die rote Rose im Knopfloch, das riesige, silbrig glänzende Mikrophon in der Linken, die Schmachtlocke über ein Auge fallend. Nie wurde er älter für sie, obwohl in den Zeitungen doch aktuelle Bilder von ihm zu sehen waren, er eine Frau geheiratet hatte, hellblond und langbeinig, nach der ersten Scheidung die zweite, recht ähnliche, und die dritte gefolgt waren.
Selbstverständlich sah sie, dass trotz all der Cremes und Liftings Anzeichen des Älterwerdens sichtbar wurden, aber in ihrem Herzen blieb er der Jüngling, der sie, gerade sie, bei diesem Konzert vor siebenundvierzig Jahren angeblickt hatte, so lange und so tief, dass sie zu vergehen meinte, und ihr dann die Rose aus seinem Knopfloch geschenkt hatte. Vor Angst schwitzend war sie, von ihrer Freundin gedrängt, nach dem Konzert vor der Künstlerkabine gestanden und hatte gewartet, stundenlang, wie ihr schien, nur um dann von einem unfreundlichen Manager weggeschickt zu werden mit dem Hinweis, ihr Herzensbrecher habe sich schon vor Langem durch den Hinterausgang verabschiedet.
Seither schnitt sie mit ihren kleinen, immer rundlicher werdenden Patschhändchen alles aus, was sie über ihn finden konnte, klebte es in Alben; wenn es sehr schöne Fotos waren, kam es auch in einen Wechselrahmen. Ihre Freundin belächelte sie dafür, ihre Sammelleidenschaft wurde immer öfter zu ihrem persönlichen Spleen erklärt. Die Jahre vergingen.
Ich hab die Katzen noch nicht gefüttert. Wie schwer ich schon wieder aus dem Sessel komme. Die Hüfte tut mir weh, Zeit, dass sich das ändert. So mit Tochter und Enkelkindern unter einem Dach, das stellen sich die Leute so schön vor, dabei ist den ganzen Tag niemand daheim und alles muss man selber machen.
So, nicht über den Läufer stolpern, auf der Stiege müssten noch Dosen sein, warum stellt Mirjam sie nur immer da hin, bis ich einmal darüber falle und mir was breche. Den Dosenöffner find ich auch nie gleich. „Raffael, geht ein Stück zu Seite! Ich steige dir ja sonst noch drauf!“ Sie haben ziemlichen Appetit. Das neue Zeug mit Thunfisch schmeckt offensichtlich. Wie ich den Geruch nur wieder von den Händen kriege! Eine Haushaltshilfe müsste man haben, in den reichen Häusern, so wie bei Roberto, haben sie immer so viel Personal, ich wär schon mit einer Putzfrau zufrieden.
Gleich mal sehen, ob Post da ist. Den Postkastenschlüssel hat Natty ja auch verloren, jetzt muss ich alles mit den Fingern aus dem Schlitz fischen. Nur gut, dass das meiste, das da zerreißt, Werbung ist.
Wo die nur bleiben vom Roten Kreuz, ich komm noch zu spät ins Krankenhaus, wenn ´s so weitergeht. Und wenn ich dann wieder im ersten Stock oben bin, läutet es bestimmt an der Tür.
Trotzdem, ich geh nochmal hinauf, auch wenn es mühsam ist, ich will mich aufs Sofa setzen zum Warten, das Stehen tut gar zu weh, und im Fernsehen läuft jetzt Astro-TV.
Da, eine Anruferin will wissen, ob sie den Schwarm ihrer Jugend wiedertreffen wird. Na, so blöd wär ich nicht, für solche Anrufe mein Geld auszugeben. Der Kerl da prophezeit ihr doch glatt ein Wiedersehen, nur damit sie in ein paar Wochen wieder anruft. Ich sehe Roberto bestimmt nie mehr in Echt und er erinnert sich wohl auch nicht mehr an mich, es war ja nur ein kurzer Moment, und er hat in seinem Leben bestimmt viele Frauen kennengelernt, klar, als Sänger. Ob er wohl glücklich ist, jetzt?
War schon eine Weile nicht mehr hier oben, seit sie im Spital ist. Eigentlich schon vorher, seit sie die Pflegerin hat. Gottlob braucht sie mich ja seither nicht mehr so viel. Wie muffig es riecht, und irgendwie streng… Kommt das von den Katzen? Das Sofa mit den vielen zerknautschten Kissen, ich glaub, sie ist selbst zum Schlafen nicht mehr daraus aufgestanden. Richtig ungewohnt, dieser Raum, wenn der Fernseher mal nicht läuft. Irgendwie tot. Die Katzen sind ja jetzt auch alle unten. All dieser Nippeskram, die getrockneten Blumen, die ihre Blätter verlieren, könnte man alles entsorgen meiner Meinung nach. Spitzendeckchen, zwei Lagen Teppiche zur Darüberfallen, na, das wird nach der Operation alles rausfliegen, damit sie nicht stolpert, dafür werde ich sorgen. Vielleicht montier ich ihr einen Griff neben dem Sofa zum Aufziehen, sie wird ja doch wieder die meiste Zeit hier drin verbringen und fernsehen.
Na, die vielen alten Bildchen von Roberto, oder wie hieß der gleich, könnte man auch mal abnehmen. Ganz vergilbt schon. Muss ja mächtig verknallt gewesen sein in den. Kaum zu glauben. Hat sie den eigentlich getroffen, bevor sie Papa kennengelernt hat? Würd ich sie gern mal fragen. Besser nicht, das wirbelt nur Staub auf.
Was such ich noch gleich? Ach ja, ihre Unterwäsche. Wird sie wohl in einer der Laden der Kommode haben. So, die oberste klemmt, wär ja ein Wunder, wenn hier mal was funktionieren würde. Wer sagt´s, mit Gewalt… oh, da sind Alben: „Alles über Roberto“… na, geht mich nichts an… dahinter was Schwarzes mit Spitze… gar nicht so riesig, wer hätte das gedacht… für wen sie das wohl angelegt hat… na, sollte man seiner eigenen Mutter auch zutrauen dürfen. War ja schließlich auch mal jung.
Hier, die Unterhosen, diese unförmigen Dinger … BHs… ich nehme lieber das mit, was sie üblicherweise auch trägt… Eigentlich kann ich jetzt wieder gehen.
Zeit, dass sich was ändert für die gute Cäcilie.
All diese Alben und Bildchen … Dabei hat sie ihn nur ein einziges Mal gesehen. Und ich war dabei. Und hier: wer weiß was für Medikamente, Spitzendeckchen, mittendrin der Fernseher, das Tor zur Welt offenbar. Nie kommt sie raus. Ich an ihrer Stelle wär schon verrückt geworden mit all den Katzen und der schlampigen, depressiven Tochter und den beiden Enkelinnen in der Wohnung unter ihr, schnippisch alle drei und eine dicker als die andere.
Die OP ist ja zum Glück gut verlaufen, jetzt wartet sie auf den Aufenthalt im Reha-Zentrum, nur um dann wieder nach Hause zu kommen und vor dem Fernseher zu sitzen.
Agathe packte kurz entschlossen die Hose mit Gummibund, um die sie Cäcilie gebeten hatte, in die mitgebrachte Tasche, warf noch einen Blick auf die Wand mit den Roberto-Bildern und machte sich auf den Weg nach Hause. Ihr war eine Idee gekommen. Es gab neuerdings diese Comeback-Shows, bei denen alt gewordenen Stars – und warum nicht auch Roberto? – gegeneinander antraten. Die wurden natürlich mit Publikum im Studio aufgezeichnet. Da konnte man doch nachforschen, ob es Tickets zu einer solchen Sendung mit Roberto gab. Wozu hatte sie Internet.
Nach einer guten Stunde des Recherchierens hatte sie es geschafft und war stolze Besitzerin zweier Ausdrucke, die sie und Cäcilie dazu berechtigten, in gut zwei Monaten im Zuschauerraum einer solchen Sendung zu sitzen – und Roberto würde auftreten! Bis dahin musste ihre Freundin im wahrsten Sinn des Wortes wieder auf den Beinen sein. Dass sie sich darüber freuen würde, daran hatte Agathe keinen Zweifel.
Mit allem hatte Agathe gerechnet, nur damit nicht: Cäcilie wollte Roberto nicht wiedersehen. „Das soll einer verstehen können! Da denkst du all die Jahre offenbar an den Einen, klebst deine Wohnung voll mit Bildern von ihm, und dann willst du diese Chance nicht nützen!“ Agathe schimpfte richtiggehend auf die im Krankenbett halb aufgerichtete Freundin ein, strich sich das flammendrot gefärbte Haar aus der Stirn und zupfte an ihrer pinken Bluse. Heiß fand sie es in Krankenhauszimmern immer. Cäcilie verteidigte sich, es sei zu früh, in zwei Monaten werde sie gerade aus der Reha entlassen, würde vielleicht noch auf Krücken gehen, alles wäre zu anstrengend.
Alle Argumente, es gäbe nur diese eine Sendung, Cäcilie müsse eben eifrig trainieren, auch etwas abnehmen, und der große Tag würde eben der Anreiz für all die Mühen sein, schienen nicht zu fruchten. Bis ihr unerwartet Cäcilies Sohn Ricardo zu Hilfe kam. Unbemerkt hatte er das Zimmer betreten und mitgelauscht. Nun machte er sich lustig über Agathes Idee und seine Mutter, die den alten Schwarm nicht wiedertreffen wollte. „Ist er dir vielleicht nicht mehr knackig genug, dein Roberto?“, feixte er. „An dir sind die Jahre ja spurlos vorübergegangen!“ Da richtete sich Cäcilie im Bett auf und sprach zum Erstaunen aller: „Gut, ich fahre mit, aber was ich dort mache, ist meine Sache – und wehe, es lacht jemand über mich!“
Von da an ging es aufwärts. Die Heilung der Wunde schritt voran, im Rehazentrum turnte sie und hielt Diät, dass die Angestellten ihre Freude hatten. Im Nu hatte Cäcilie fünfzehn Kilo abgenommen und konnte mit Hilfe der Physiotherapeutin bald wieder ohne Krücken gehen. Agathe kam sie besuchen und brachte Zeitschriften mit – über Roberto berichteten sie natürlich nicht mehr, nur einmal war von seinem Auftritt bei dem bevorstehenden Contest die Rede.
Die Zeit verflog, Cäcilie wurde nach Hause entlassen und der große Tag stand vor der Tür. Friseurtermin, neues sportliches Outfit, Cäcilie wirkte viel jünger und Agathe hatte Mühe, mit ihrem Schwung und Tempo mitzuhalten.
Nach so langer Zeit mal wieder mit Cäcilie im Auto, sie wirkt wirklich um zehn Jahre jünger, in den sportlichen Sachen… ich hab mir ja auch Mühe gegeben, man fährt nicht alle Tage in ein Fernsehstudio. Aber was hat sie bloß in dem Korb, und warum tut sie damit so geheimnisvoll? Wird wohl eine Jause für uns zwei sein, wie früher, sie will mich vermutlich damit überraschen.
Der Weg zu diesem Studio ist schlecht ausgeschildert… und warm ist mir jetzt schon… na, das wird drinnen durch die Scheinwerfer nicht besser sein.
Agathe hat für gute Sitzplätze gesorgt – dritte Reihe Mitte. Aber ich muss ganz aufrecht sitzen, sonst sehe ich über den Herrn vor mir nicht drüber, so groß wie der ist… und heiß ist mir… Da, Roberto kommt schon in der ersten Runde an die Reihe… wie gut er noch immer aussieht, wahrscheinlich geliftet, aber das macht mir nichts aus… wie früher im weißen Anzug und mit der Rose im Knopfloch… er hinkt ein wenig… Er hatte vor ein paar Monaten eine Knieoperation, habe ich ja gelesen… Was? Eine Arie soll er singen? Eine Frechheit… Er hat das nie gemacht… kein Wunder, wenn er jetzt ärgerlich schaut… ich hoffe, ich kann ihn später noch aufheitern… wenn bloß das alles schon vorüber wäre… Was für ein blöder Wettbewerb!
Roberto schied schon in der ersten Runde aus, wie zu erwarten gewesen war. Arien waren einfach nicht sein Ding. Er wirkte verärgert, kein guter Verlierer.
Endlich waren alle Bewerber dran gewesen, Cäcilie kam es wie eine Ewigkeit vor, bis sie schließlich aufstehen und den Saal verlassen konnten. „Warte hier auf mich, nein, du musst mich nicht begleiten!“, wimmelte sie die fürsorgliche Agathe ab. Diesen Weg musste sie allein gehen, sie würde schon hinfinden. Sicher war die Künstlergarderobe beschildert. Hoffentlich hatte die Torte im Korb nicht allzu sehr gelitten unter der Hitze, Schwarzwälder-Kirsch, wie sie in den Interviews mit ihm gelesen hatte, seine Lieblingstorte. Und die 47 roten Rosen waren vielleicht auch nicht mehr ganz frisch. Sie dachte daran, sich noch etwas die Nase zu pudern, bevor sie anklopfte.
Wieder war es ein hochgewachsener, mürrischer Manager, der Cäcilie von oben herab betrachtete und nach ihren Wünschen fragte. „Roberto… ich möchte ihn persönlich sprechen, wir kennen uns von früher…“, brachte sie stockend hervor. Bestimmt hatte sie rote Flecken am Hals.
Der Manager ging nach hinten und nach gefühlten hundert Minuten kam Roberto zur Tür, sich schwer auf einen Gehstock mit silbernem Griff stützend, und wischte sich über das – immer noch – schweißglänzende Gesicht. „Ja, bitte? Sie wünschen?“, fragte er mit einem Unterton, den sie nicht recht deuten konnte. „Ich… Ja… äh…“ Sie fuhr sich mit der Hand über den Mund. Sie hatte sich das einfacher vorgestellt. So oft hatte sie den Satz zu Hause geprobt. „Wollen Sie mir etwas bringen?“, fragte Roberto nun nach einem Räuspern, den Blick auf den Korb gerichtet. „Ja, ich habe da eine Schwarzwälder-Kirsch-Torte gebacken, und da dachte ich mir… angeblich essen Sie die so gern…“ Verdammt, das klang, als ob sie nur wegen der Torte hier wäre. Roberto machte kleine Trippelschrittchen nach rechts und links – es erinnerte sie an die Parkinson-Kranke im Spital, mit der sie eine Zeitlang das Zimmer geteilt hatte. „Ich werde meinen Manager bitten, das entgegenzunehmen.“ Cäcilie sah ihre Felle davon schwimmen. Mit flehendem Blick stammelte sie: „Aber ich hab all die 47 Jahre an dich… äh an Sie… gedacht… die rote Rose damals in Düsseldorf… und jetzt hat mir Agathe die Karten für das Casting geschenkt und vielleicht können wir … mitsammen Kaffee trinken gehen… nur kurz… mein halbes Leben…“
Er lächelte milde. „Sagen wir… in zwei Stunden im Café unten neben dem Haupteingang wie wäre das?
Ihr Herz hüpfte. Nur keine zu große Aufregung, hatte der Arzt gesagt. „Ja, sehr gerne, natürlich, wie wunderbar…“, kickste sie.
„Ja, ich brauche nur etwas Zeit, um… äh… um mich frisch zu machen. Sie sehen ja!“
Mit verklärtem Gesicht stolperte Cäcilie die Stiege hinunter, beinahe wäre sie gestürzt. Agathe fing sie auf. „Wo warst du so lang?“ Sie verzog leicht den Mund, als sie von der Verabredung hörte. Sie sei gespannt. Ob sie eifersüchtig war? Cäcilie traute sich nicht zu fragen.
Roberto eilte in das Halbdunkel der Garderobe zurück, schlüpfte aus den Pantoffeln und zog die Schuhe an. „Jacques, beeilen Sie sich, wir reisen in der nächsten halben Stunde ab, über den Hinterausgang. Und den Korb da – er stieß mit der Schuhspitze leicht dagegen – den entsorgen Sie bitte.“
© Ursula Zöttl
Alles Liebe H Punkt
von Lara More
Sechs Jahre später
Nach sechs Jahren sahen sie einander wieder. Er an der Seite der Blonden – er wohnte jetzt bei ihr, das Haus hatte er verkaufen müssen. Schlank sei er, meinten die Wohlmeinenden, schlecht sieht er aus, sagten die Freunde.
Es war bei der Hochzeitsfeier des Sohnes und das Wiedersehen unvermeidlich. Klein war er geworden. Er war kein großer Mann, aber so klein hatte sie ihn nicht in Erinnerung. Er wirkte gefasst, er hatte sich auf diesen Tag hintrainiert. Er war gepflegt, gut angezogen und er roch noch immer nach ‚Hot‘ von Davidoff. Eigentlich ein zu aufdringlicher Duft für einen Mann über sechzig, fand sie, aber es war ihr egal. Doch das Parfum wurde leicht von einem anderen Geruch überdeckt. Von einem feuchtwarmen, stechenden Geruch, nach… was war das? Alkohol? Nein, eine Schnapsfahne war das nicht… es war auch nicht der süßliche Geruch von Haschisch, es war…, es war…. Plötzlich wusste sie es – es war die schwüle Schwere von Opium.
Es gab also nicht nur die Blonde in seinem neuen Leben, er war auch zu seiner alten Liebe zurückgekehrt. Schon so lange hatte sie diesen Geruch vergessen, aber nun war er wieder da und mit ihm die Erinnerungen….
Der Journalist
Er war gerade wieder in einer Lebenskrise. Substanzbedingt, denn wirkliche Krisen, z.B. finanzieller oder beruflicher Art kannte er nicht. Es hatte immer Frauen gegeben in seinem Leben, die ihm aus der Patsche geholfen hatten, wenn es notwendig war. Seine Krisen waren hausgemacht und selbst verursacht.
Nicht nur sie, auch der gemeinsame Sohn und einige der eingeweihten Freunde warnten ihn, dass es so nicht weiter gehen könne. Also ließ er die Finger von der Substanz – welche es damals gerade war, wusste sie nicht mehr. Es war auch egal, aber wahrscheinlich war es wiedermal Alkohol um eine andere Substanz zu substituieren.
Er hatte also eine nüchterne Phase. Die hatte er immer wieder – aber nie sehr lange…Er wollte ihr Handy anstecken, ungefragt natürlich, und da las er die offenen Whats App Nachrichten. Nachrichten, die nicht an ihn adressiert waren und sicher nicht dazu gedacht und geschrieben um von ihm gelesen zu werden. Zumindest nicht bewusst geplant…
Es war mitten in der Nacht, sie schlief schon in ihrem eigenen Schlafzimmer. Er war noch wach. Entzug halt. Der Wievielte weiß man nicht, er war aber nüchtern – immerhin – und das hat ihr vielleicht sogar das Leben gerettet – oder sie zumindest vor möglichen Handgreiflichkeiten bewahrt.
‚Du betrügst mich‘ schrie er und zunächst dachte sie, sie träumte, aber es geht ja hier nicht um sie, es geht um ihn.
‚Du hast eine Affäre – Wer ist es?‘
‚Was…?‘
‚Du hast eine Affäre!‘
‚Es ist nichts…‘
‚Was heißt, es ist nichts? Du hast einen Ohrring bei ihm verloren?!‘
‚Ja, aber…‘
‚Und ‚es war heiß‘…?!‘
‚Es ist heiß – wir haben Juli..‘
‚Du warst bei einem anderen Mann..‘
‚Ja, aber…‘
‚Seit wann geht das?‘
‚Lass dir erklären..‘
‚Du brauchst mir nichts zu erklären!‘
‚Ich hab ihn bei dem Straßenfest kennengelernt, als ich den Stand hatte, während du in Hamburg warst mit der Herrenrunde…‘
‚Du kannst gleich deine Sachen packen und zu ihm ziehen, wenn du ihn so liebst!‘
‚Aber….‘
‚Geh doch zu ihm, wenn du glaubst, dass er dir mehr bieten kann als ich..‘
‚Hallo? Ich kenn den Typen kaum…‘
‚Du bist so letztklassig…‘
‚Jetzt…‘
‚Wenn du ihn so liebst, geh doch zu ihm!‘
‚Ich…‘
‚Wie kannst du mir das antun?‘
‚Es geht hier nicht um…‘
‚Na da wünsch ich dir mal viel Glück!‘
‚Ich wollte..‘
‚Ich weiß schon was du wolltest – ich bin ja nicht blöd!‘
‚Wir waren nicht im Bett!‘
‚Das brauchst du mir doch nicht erzählen, lüg mich nicht an!‘
‚Ich hab dich nicht…‘
‚Ich hab gesagt, du sollst mich nicht anlügen!‘
‚Jetzt lass uns…‘
‚Ich red‘ nicht mehr mit dir und dein Handy behalt ich – morgen geh ich zum Anwalt!‘
‚Jetzt komm, lass uns..‘
‚Du wirst schon sehen, wo du bleibst!‘
‚Jetzt werd doch…‘
‚Ich nehm dir alles weg! Ich hab Beweise für deinen Betrug und du wirst auf der Straße landen!‘
‚Komm, lass uns vernünftig…‘
‚Ich red nicht mehr mit dir!‘
‚Ich…..‘
‚Genierst du dich nicht vor unserem Kind?‘
‚Der Bub ist erwachsen! Was hat das…..‘
‚Du bist seine Mutter!‘
‚Ja, …‘
‚Ist dir das nicht peinlich?‘
‚Das hat nichts…‘
‚Ich red‘ nicht mehr mit dir!‘
‚Ich war..‘
‚Es geht immer nur um dich, merkst du das eigentlich?‘
‚Du…‘
‚Du betrügst mich!‘
‚Ich…‘
‚Und schon wieder redest du von dir! Weißt du überhaupt wie’s mir geht?‘
‚Ich…‘
‚Du bist das Allerletzte!‘
‚Wollen wir nicht wie vernünftige..‘
‚Du wirst schon sehen, wo du bleibst! Und das Geld..Du hast keine Beweise, dass du es mir geborgt hast! Ich nehm dir alles weg! Das Geld siehst du nie wieder!‘
‚Jetzt…‘
‚Hör auf, kein Wort mehr! Ich weiß alles, was ich wissen muss…‘
Das Gespräch war sinnlos, es war kein Gespräch, er hörte nicht zu, wie meistens…Er konnte nicht zuhören, konnte er noch nie, und dass er es in dieser Situation erst recht nicht konnte war offensichtlich.
Er redete, tobte, schrie, weinte, jammerte und er versteckte ihr Handy. Sie ging schlafen – versuchte zumindest zu schlafen und schloss ihr Schlafzimmer ab – sicher ist sicher.
Als sie am nächsten Morgen mit gepackter Tasche das Zimmer verließ war er schon – oder noch immer – munter. 6.00 – eigentlich so gar nicht seine Zeit. Er gab ihr wohl oder übel das Telefon zurück – es war ein Diensthandy und sie drohte mit der Polizei – allerdings nicht ohne ihr zu sagen, dass er alles, die gesamte ‚schweinische‘ Korrespondenz, kopiert hätte und damit nun zum Anwalt ginge.
Nachdem sie weg war – er dachte, dass sie wie angekündigt zu einer Freundin nach Kärnten fuhr, wie geplant, war sich aber nicht sicher – überkam ihn Panik. Sie war weg, tatsächlich gegangen. Aber was sollte er nun machen? Er war so stolz auf sich, dass er die Nacht ohne Substanzen durchgehalten hatte und traf eine in seinen Augen überaus nüchterne und erwachsene Entscheidung. Er würde den Konkurrenten anrufen, die Nummer hatte er ja. Ja, das ist es, was ein betrogener Mann in so einer Situation wohl tut. Ja, das ist ein starker Charakterzug, damit könnte er ihr auch beweisen, dass er sie liebe, dass er Aktionen setze…ja, das war eine grandiose Idee.
Er der Gehörnte, ruft den Liebhaber an, um…ja, was nun…Einmal mehr war ihm das mit dem Denken und Reden – welche Reihenfolge ist die bessere – durcheinander geraten, doch da hatte er den Gesprächspartner, einen Journalisten, das hatte er noch in der Nacht gegoogelt, also nicht ganz seine Kragenweite, am anderen Ende der Leitung.
Und dann ging es mit ihm durch..Er sagte was ihm gerade in den Sinn kam…..Dinge wie, dass seine Frau, also die vermeintliche Geliebte des Journalisten, die beste, klügste, wundervollste Frau der Welt sei, und dass er, der Journalist, sie ja gut behandeln solle, und….
Der Journalist lachte und legte auf.
Er denkt
„Ich habe doch nichts falsch gemacht, alles immer nur für die Familie, alles immer nur für dich, für euch, und jetzt das… Du weißt gar nicht, dass alles, alles was immer ich auch getan habe, nur für dich war. Warum begreifst du nicht, dass du mein Leben bist? Wie kannst du so herzlos sein? Mein Leben war dein Leben, alles immer nur für dich…Ich will, dass du mich brauchst und und brauchst mich nicht – und das sagst du mir auch noch ins Gesicht. ‚ Ich brauch dich nicht, aber ich will dch in meinem Leben haben, hast du gesagt – aber was ist das denn für eine Liebe, wenn man sich nicht braucht….Du kränkst mich immer nur …. weil du meine Liebe nicht annehmen kannst, weil du ja gar nicht weißt, was Liebe ist… Und schuld ist deine Mutter…..du kannst meine große Liebe nicht aushalten, weil du Liebe nie kennengelernt hast. Ich weiss nicht was ich hätte noch tun können,…es wäre mir nie gelungen, … Ich hab‘ halt mehr Liebe als du in mir, ich hab ja auch mehr Liebe erfahren in meiner Kindheit und deswegen kann ich soviel davon weitergeben, aber du kannst es nicht annehmen…. Das ist so ungerecht, so unfair, das tut mir so weh und du bist einfach nur hartherzig und lässt mich mit meiner großen Liebe zu dir allein. Ich war immer für dich da, hab für dich gesorgt geputzt, gekocht, war einkaufen; als du studiert hast, hab ich dich unterstützt und unser Leben finanziert..als unser Sohn noch klein war, hab ich mich um ihn gekümmert und du hast Karriere gemacht….alles hätte ich für dich getan ….und du wirfst meine Liebe weg..du betrügst mich, weil du meine große Liebe nicht ertragen kannst. Du brichst mir das Herz, aber ich werde nicht untergehen, du wirst schon sehen, wenn du alleine bleibst, wie schwierig das Leben für dich ohne mich wird….Du wirst schon sehen, wie das ist, wenn ich nur auf mich schaue, ….ist ja nicht so, dass ich keine andere finden werde…..eine, die endlich zu schätzen weiss, was sie an mir hat….Gutaussehend, Geld , Tagesfreizeit, urlaubserprobt….
Ein halbes Jahr später – Sie
„Als ich die Tür öffnete, wusste ich, dass es vorbei war – ich konnte und wollte aus diesem Leben raus, ich konnte und wollte diesen Mann nicht mehr an meiner Seite haben. Diese Langeweile, dieses Desinteresse, diese Dumpfheit, dieses Nichts, diese Egomanie,.. Nichts im Kopf, nichts am Plan, nichts in der Zukunft, zu wenig in der Vergangenheit.
Als ich diese Tür öffnete, wusste ich, dass das nicht mehr oft geschehen wird – nicht diese Tür, nicht dieses Haus, nicht dieses Leben. Dieses Leben war aus und vorbei und es war Zeit für neue Wege. Eigene Wege ohne Verantwortung für jemand anderen, ohne Rücksicht; eigene Wege ohne Rückblick, eigene Wege ohne Mitleid, eigene Wege ohne Nachsicht und ohne Sentimentalität, eigene Wege mit Verantwortung nur mehr für mich.
Als ich diese Tür öffnete, war ich bereit ein neues Kapitel aufzuschlagen – mit allen Konsequenzen und endgültig entschlossen. Es war klar, dass das nicht einfach werden würde, aber andererseits war klar, dass es nun sehr wohl einfach würde. Weil die Zeit der Rücksichtnahme war nun vorbei. Dieses Leben, diese Liebe lagen nun für immer hinter mir. Das war befreiend, die Fesseln im Kopf waren gelöst. Nicht mehr gebunden an diese Wehleidigkeit, diese Leere, diese Oberflächlichkeit, diese Stumpfheit – endlich war es aus.
Ja, als ich die Türe nach diesem Wochenende öffnete, war mir klar, dass für mich ein neues Leben beginnen wird. Vier Nächte mit Freundinnen im Welnesshotel – und er hatte Zeit zum ‚Nachdenken‘: ‚Ich hab viel nachgedacht es wird sich einiges ändern. Alles Liebe H.‘
Es wird sich nicht nur einiges ändern, es wird sich alles ändern.
Das war nach der ersten Einheit der ersten Paartherapie, zu der er dann nicht mehr gehen wollte… ‚Macht eh alles einen Sinn, kostet nur Geld….‘
Die letzten zehn Jahre waren schwierig, aber ich wollte es mir lange nicht eingestehen – vor allem wollte ich mir nicht eigestehen, dass unsere Beziehung zerbrach, Stück für Stück und immer mehr…Viele Therapiestunden, viel Aufarbeitung, viel Hinsehen, auch wenn‘s weh tut, und irgendwann die Erkenntnis, dass er es war, das ich mit diesem Mann nicht alt werden wollte. Der Prozess des Eingestehens des Scheiterns dauerte Jahre, und Liebe war da schon lange nicht mehr. Aber wir waren verheiratet und er der Vater meines Kindes, und eine Trennung kam mir lange nicht in den Sinn. Erst die Krankheit zwang mich, hin zusehen – und zu erkennen, dass es mir alleine im Krankenhaus besser ging als zu Hause bei ihm. Aber auch da dachte ich noch nicht an Trennung, sondern an Paartherapie, an die Möglichkeit sich neu aus zurichten, sich zusammen zu raufen, an Beziehungsarbeit und ein Happy End. Und mitten in diesem Prozess – ‚Alles Liebe H.‘; Therapieabbruch und die Aufforderung zu gehen – also ging ich.
Seine bis dato bewährte Strategie, mich unter Druck zu setzen, in die Doppelmühle zu bringen, mich unter nichtgewinnbaren Zugzwang zu setzen, mich wieder zu erpressen – diesmal ging sie nicht auf. Na klar war seine Nachricht aus Gekränktheit geschrieben, seine Aufforderung zu gehen nicht ernst gemeint, aber – es funktionierte nicht mehr. Ich nahm ihn beim Wort anstatt zu wissen, was er meinte. Ich tat was er behauptete, dass er wollte – und damit hatte er nicht gerechnet.
Es hat ihn immer ziemlich beschäftigt, zu überlegen – wobei, nein nicht zu überlegen, das ist ja nicht seine Stärke, das Denken – sondern zu spüren, seinen Gefühlen freien Lauf zu lassen, seine Opferidentität auszuleben, sein ungerechtes Verhältnis zur Welt zu beklagen, sich in seinem Selbstmitleid zu suhlen. In seiner Wahrnehmung hatte sich die ganze Welt gegen ihn verschworen und laufend widerfuhr ihm Unrecht – ihm und nur ihm!
Gekränkt sein konnte er gut, darin war er gebt – er war gerne Opfer, da muss man ja auch nicht aktiv sein.
Als ich die diese Türe öffnete war klar, dass wir reden müssen – zuerst – und dass ich dann handeln werde.“
Er
Er wollte nichts mehr als sie behalten – nein eigentlich gar nicht sie, sondern sein altes Leben, sein Leben mit ihr – er wollte es wieder haben, er wollte, dass es wieder wäre wie früher.
‚Ich will, dass du ausziehst‘ war, was er sagte. Ein Satz – mutig gesprochen aus Mutlosigkeit. Seine Verzweiflung hatte immense Ausmaße angenommen, er wusste nicht mehr, was er tun, was er nicht tun, was er sagen, wann er schweigen sollte. Reden war noch nie seine Stärke gewesen, geschweige denn das, was dem Reden vorangehen sollte – das Denken.
‚Erst Denken, dann sprechen‘ ein scherzhaft hingeworfenes Bonmot – ursprünglich an den Sohn gerichtet, als der noch ein Kind war, doch der war aus dem Alter draußen, der konnte mittlerweile Denken und Reden und zwar in der richtigen Reihenfolge. Aber er, er hatte damit noch immer Schwierigkeiten.
Klare Gedanken, Überlegungen dazu, was Worte, einmal ausgesprochen, bedeuten und vor allem bewirken können, konnte er schon lange nicht mehr fassen. Vielleicht hat er es auch nie gekonnt, aber jahrelanger Missbrauch diverser legaler und illegaler Substanzen haben die Fähigkeit zu klarem, strukturiertem Denken nicht gefördert.
Da war er also der Satz.. ‚Ich will, dass du ausziehst‘. Er hing in der Luft, prickelnd, vermeintlich drohend, laut und doch ruhig, leise und unruhig. Er hatte ihn ausgesprochen, es war gesagt und eine neue Dimension erreicht. Vielleicht wollte er es in diesem Moment wirklich, ganz kurz zumindest.
Vielleicht wollte er aber auch aus seiner Unsicherheit heraus nur irgendetwas sagen, vielleicht wollte er ihr drohen. Jedenfalls Fakten schaffen, für den Moment, den starken Kerl mimend aber insgeheim hoffend, dass das Gegenteil eintritt.
Dass sie nämlich nicht geht, sondern bleibt. Dass sie, wie so oft, ihn richtig interpretiert, und einmal mehr aushält, dass er das Gegenteil von dem meint, was er sagt. Oder dass er wiedermal gar nicht weiss, was er meint, weil er nicht weiss, was er will…Denn das war sein Grundproblem: Er wusste nicht, was er wollte. Nicht ansatzweise, es konnte dies sein oder auch jenes, das Gegenteil davon oder wieder ganz anderes.. Wenn einer selbst nicht weiß, was er will, kann man nicht entsprechen. Er könnte auch das Gegenteil , von dem, was er gerade behauptete, wollen können – alles war möglich und man konnte es ihm nie recht machen.
Von wegen ‚Hans im Glück‘ .. In Wahrheit verstand ihn niemand…sein Leben war nicht erstrebenswert und schön, sondern eine einzige Plage, aber das kapierte seine Umgebung nicht.
Sein Dilemma war: Er hatte Charme, und wenn er sich bemühte, konnte er durchaus manipulativ sein um seine Ziele zu erreichen und seine Wünsche Wirklichkeit werden zu lassen. Und es hatte immer Menschen –Frauen – in einem Leben gegeben, die diesem Charme erlegen sind und seine Wünsche Realität werden ließen.
Doch kaum war ein Wunsch erfüllt, war er nicht mehr wichtig – und ein neues Begehr, ein neues ‚Ziel‘ mussten her. Dass der Weg ein Prozess ist, dass die Zielerreichung das Leben ausmacht, das hat er nie verstanden…
Warum
Was seine Mutter nie verstanden hatte, war, dass sie ihn erwachsen lassen werden muss. Er war immer der Liebling, dem alles nachgetragen, ja in den Arsch geschoben worden war, dem immer aus der Patsche geholfen, dem jede Arbeit abgenommen, dem jeder Stein aus dem Weg geräumt worden war, um wieder gut zu machen, was mit ihm passiert – oder auch nicht passiert – war, als er klein war.
Er schob immer alles auf seine Kindheit, die so toll gewesen war, aber gleichzeitig auch wieder nicht.. Was jetzt, hatte sie sich oft gefragt, war er nun ein glückliches Kind gewesen, oder nicht – zumindest das müsste er doch wissen, dachte sie.
Doch irgendwann durchschaute sie die Strategie. Seine Kindheit war für alles verantwortlich, was gelungen, und gleichzeitig auch für alles, was schiefgegangen ist in seinem Leben. Denn schuld waren bei dieser Einstellung immer die anderen und er konnte die Verantwortung bequem abgeben. Schuldige identifizieren – darin war er gut! Es waren immer die anderen, oder die Umstände, oder die Montagsproduktion, oder seine Mutter, sein Bruder, sein Vater, oder eben sie…
Seine Mutter war mittlerweile über 80 und dement – und auch aus dieser Verantwortung zog er sich zurück. Er organisierte die Pflege, die Rund-um-die Uhr-Betreuung, er kümmert sich um die Bezahlung – aus ihrer Pension, die war hoch genug –, aber er war nicht da für sie. Er wollte damit nichts zu tun haben, das halte er emotional nicht aus, das tue ihm zu sehr weh, so seine Worte. Er liebe sie zu sehr, um sich das anzusehen, das belastet ihn zu sehr, das müsse man doch verstehen.
Das Leben – eine einzige Belastung in seinen Augen. Immer muss er Hürden nehmen, immer er, reale Flucht unmöglich, …also blieb ihm nur die Flucht in die Substanzen .
Permanent auf der Rückzug und welche Wege dabei wohin führen, mit welchen Mitteln der Weg geebnet wird, das war letztlich gleichgültig – Hauptsache raus aus der Realität.
Ob die Substanzen ihm dabei halfen, diesen Zustand zu ertragen oder ob sie mitverantwortlich dafür waren ist letztlich egal. Sich zu betäuben war sein probates Mittel. Dann tat das Hinsehen nicht mehr weh.
Büro
Das Zimmer, das bis vor zehn Jahren das Kinderzimmer war, solange bis der Sohn nach der Matura in eine eigene Wohnung ging, hat nun seine zweite Wandlung erfahren. Neuneinhalb Jahre war es sein Schlafzimmer gewesen – er wollte sie mit seinem Schnarchen nicht stören, war dann aber gekränkt, weil sie sich nicht gekränkt hatte, als er aus dem gemeinsamen Schlafzimmer ausgezogen war –, nun war es sein Büro.
Ein Büro für einen Mann, der keine Arbeit hat. Genauso sah es auch aus. Schreibtisch mit Laptop und Drehstuhl, mitten im Zimmer, der Wandverbau, sein Kleiderkasten, und sonst nichts.
In Wirklichkeit war es sein Zwischenlager, denn er brauchte kein Büro – es klang aber gut, eines zu haben. Das Zimmer war ein Lager für die Dinge, die er fortwährend kaufte, und die in den Kästen und Regalen keinen Platz mehr fanden. Oder die auszupacken und zu verstauen ihn gerade nicht freute. Wer hat schon Platz für zehn Duschgels, wer hat schon Lust, fünf neu gekaufte Parfums auszupacken, wer Spaß daran, Socken, im Duzend erworben, voneinander zu trennen – also die Bändchen, die das Sockenpaar verbindet durchzuschneiden, die Etiketten zu lösen, die Socken zusammenzulegen, und in die dafür reservierte Lade zu den fünfzig anderen – identen – zu legen.
Das Zusammenlegen wäre eigentlich nicht nötig, denn er kaufte immer die gleichen, teuren Markensocken. Er kaufte auch immer das gleiche teure Parfum, seit sie vor 10 Jahren seinen ursprünglichen Lieblingsduft – Givenchy – aufgelassen hatten.
Sie hatte sich schon immer gefragt, wie ein einzelner Mensch soviel Parfum verbrauchen kann. Zunächst war es ihr zwar nicht aufgefallen, aber dann, als sie arbeitslos war und das Geld nicht mehr so üppig am Monatsende am Konto landete, begann sie sich die Visarechnungen näher anzusehen.
Er hatte eine Nebenkarte zu ihrer Hauptkarte – sie hatte das bessere Einkommen gehabt und daher Platin für beide – und kaufte gerne ein – im real life und online. Vor allem bei Amazon. Regelmäßig. Immer das gleiche – pro Monat ca. 500 Euro für Unterhosen, Parfums, Duschgels und Socken.
Seit sie weg war, hatte er eine eigene Kreditkarte – und kaufte noch immer ein – Unterhosen, Parfums, Duschgels und Socken. Neuerwerbungen der immer gleichen Dinge mit oder ohne Verpackung lagen herum. Im Büro. Immer.
An der Wand hing sein letztes Weihnachtsgeschenk für sie – eine Fotocollage von ihm, dem Sohn und den beiden Hunden –, das sie im Haus zurückgelassen hatte. Und ein zweites Bild. Der erste Hund und sie – ihr Geburtstagsgeschenk an ihn ein paar Jahre zuvor.
Die Fotos in den Regalen im Büro waren neu. Es waren Porträts von den drei Kindern der Blonden – nur eines, ein einziges, war von seinem Sohn.
Beim Anwalt
Sie hatte ihn ernst, seine Worte ‚Ich will, dass du gehst‘ für bare Münze genommen. Sie war tatsächlich gegangen.
Er hatte nicht damit gerechnet. Sie war doch immer da gewesen, hatte seine Welt am Laufen gehalten, und jetzt war sie gegangen.
Sie war weg. Nie hätte er gedacht, dass sie wirklich geht, nie hätte er gedacht, dass sie das so schnell, so selbständig, so unaufgeregt tun wird. Nie hätte er sich das vorstellen können. Dass sie ihn wirklich verlässt.
Ja, er hatte gesagt, dass sie gehen soll, ja, als sie ihn am nächsten Tag nochmals gefragt hatte, ob er das denn wirklich wolle, ob sie nicht die begonnene Ehetherapie fortsetzen und an der Beziehung arbeiten und ihr eine Chance geben sollten, hatte er ersteres bestätigt und zweiteres verneint. Ja, er wolle, dass sie gehe, und nein, die Therapie sei sinnlos, die wolle er nicht fortsetzen.
‚Wozu auch‘, hatte er gedacht, ‚nur teuer!‘. ‚Sie wird auch so erkennen, wie schwer ein Leben ohne mich, ein Leben alleine wird; sie wird zurückkommen, klein und arm und um Wiederaufnahme betteln.‘ Dachte er.
Aber er hatte sich getäuscht. Sie war weg. Für immer gegangen. Er war alleine. Am Schlimmste war das Gefühl, dass niemand mehr da war, dem er seine Befindlichkeit mitteilen konnte, dem er sein Unglück klagen, den er verantwortlich machen konnte. Wobei, so stimmte das nicht. Natürlich war sie an seinem Unglück schuld, sie war ja gegangen. Aber er konnte es ihr nicht sagen, er musste diesen Zustand alleine aushalten, sie war nicht mehr da um sich beschuldigen zu lassen.
Als er sie wegschickte und gesagt hatte, er wolle, dass sie gehe, hat er das doch nur gesagt, weil er gespürt hat, dass sie das wollte. Und dann ein schlechtes Gewissen bekäme und vielleicht doch bliebe… Aber sie ging und wollte die Scheidung. Möglichst rasch.
Die finanziellen Aspekte einer Trennung hatte er übersehen; dass in 30 Ehejahren mehr oder weniger gemeinsam erworbenes Vermögen auseinanderdividiert werden muss, hatte er nicht bedacht.
Wieso muss er ihr den Anteil des Hauses auszahlen – sie ist ja gegangen, sie hätte ja auch bleiben können! Wo soll er denn das Geld hernehmen, wie kommt er überhaupt dazu, sich darüber den Kopf zu zerbrechen! Hätte er nicht gespürt, dass sie weg wollte, und sie überhaupt erst deswegen dazu aufgefordert, wäre das alles schließlich nicht so gekommen. Nur weil er ihr in seiner Großherzigkeit – er liebte sie ja und wollte nur ihr Bestes – keine Steine in den Weg gelegt hatte, sie also gehen ließ, ihr auch diesen Wunsch erfüllte und vorgeschlagen, ja sie dazu motiviert hatte, das gemeinsame Haus zu verlassen, sollte er jetzt finanzielle Einbußen haben?
Irgendwie hatte er das bei seinem Plan, ‚ihr die Freiheit zu schenken‘, nicht bedacht. Und es ging nicht nur um das gemeinsame Haus, es ging auch um das Darlehen, ohne das er die beiden Lokale, um die sich nun der Sohn kümmerte, weil für ihn war das dann doch zu anstrengend gewesen – zwei Lokale führen, nein wirklich nicht, – , nicht hätte finanzieren können, und das sie nun zurückforderte.
Mein Gott, 14 Jahre lang haben ihr die ersten 40.000 Euro von der Bar nicht gefehlt, und auch nicht die 180.000 Euro, die seit zwei Jahren im zweiten Lokal, dem Restaurant steckten, brauchte sie bis jetzt ja auch nicht.
Und was konnte er dafür, dass ihm beim ersten Lokal der Kompagnon – ja, man hatte unterschiedliche Vorstellungen vom Konzept und wahrscheinlich hatte sie recht, als sie damals sagte, man hätte das wohl früher besprechen sollen, aber Menschen machen nun einmal Fehler, oder? – abgesprungen war.
Und dass beim zweiten Lokal das Budget bei weitem nicht ausgereicht hatte, war ja auch nicht seine Schuld…. hätte er mitten in der Baustelle, als die geplanten 120.000 Euro zur Neige gegangen waren, aufhören sollen? Er hätte ja den Kredit aufgestockt, aber sie in ihrer kleinlichen Erbsenzählermentalität hatte gemeint, die Rückzahlungsraten würde ihm über den Kopf wachsen – und finanzierte ihn weiter. Sie hatte ja Ersparnisse und außerdem ein kleines Erbe. Das war doch ihre Entscheidung gewesen, er hatte sie ja nicht dazu gezwungen damals, vor zwei Jahren, das war ja ihre Entscheidung gewesen, und sie hatte laufend die Rechnungen bezahlt – er hatte sie nicht dazu aufgefordert…. Und jetzt wollte Sie ihr Geld retour… Er verstand die Welt nicht mehr…
Endlich bat ihn der Anwalt zur Tür herein.
© Lara More
Im Flow…wild und gefährlich
von Irmengard Maria Berreiter
Die Kirchturmglocke der nahen Dorfkirche läutet sieben Mal.
„Aufstehen….ein neuer Morgen“, sage ich mir vor und öffne die Augen.
Doch etwas ist anders!
Ich vibriere, bin gespannt wie ein Saitenbogen, jede Pore weitet sich ins Unendliche, mein Trommelfell platzt gleich bei jedem Laut durchs Fenster.
Ich liege da…klar klingen die Worte. Sie hallen in mir nach wie ein Echo, das der Berg mit voller Wucht zurückwirft…so vertraut und glasklar…bin gefesselt vom Glücksgefühl, das sich ausbreitet. Fliege hoch hinauf wie ein Adler, der alles unter sich zurücklässt, um herauszufinden, was sich in seinem Raum befindet…bin das Licht der Sonne und der Ur-Ton der Erde gleichzeitig.
„Flieg nach Hawaii“, sagt meine innere Stimme…nicht mehr und nicht weniger, doch mit der Erwartung, es zu tun.
Das kenne ich zu gut. Vor einigen Wochen sollte ich ich eine Aktie kaufen, weil meine innere Stimme es wollte, und ich tat es….für eine Bankerin undenkbar.
Das mit der Aktie lass’ ich mir noch eingehen, die kostete ja nur 1.000 €… aber jetzt…Hawaii…was das kostet!
Unser neugebautes Haus verlangt monatlich eine satte Rate. Seit Jahren sparen mein Mann, Michael, und ich für ein neues Auto. Ich habe einen wunderbaren Mann, der mich liebt und als IT-Spezialist in einer großen Firma gutes Geld für uns verdient. Deswegen wagten wir auch die Schulden für unseren Traum vom eigenen Haus.
Als Vermögensberaterin einer Sparkasse fülle ich unsere Haushaltskasse mit auf. Aktuell sind 10.000 € auf unserem Sparbuch für ein neues Auto, der Rest fließt ins Haus. Mein Mann liebt meine weiblichen Kurven und freut sich, wenn ich mir mal wieder ein schönes Kleid leiste. Verständlich, dass ich haushalte.
„Flieg nach Hawaii!“
„Was soll ich dort….ich will jetzt nicht!“
Michael hält mich sicher für verrückt. Er dreht jeden Cent zweimal um, bevor wir ihn ausgeben. Ich stürme nach unten in die Küche, um es ihm zu erzählen.
„Wenn Du nach Hawaii fliegen sollst, dann fliegen wir nach Hawaii“, höre ich dann von Michael.
…so..so spricht Michael nicht…das würde er nie sagen, weder in Worten noch im Tonfall. Was ist heute nur mit meiner geliebten Welt los?
„Ja, aber unser Geld fürs neue Auto“, stammle ich.
Mein Widerstand löst sich langsam auf. Etwas ist für mich auf Hawaii…kann es nicht greifen.
Egal…schnell anziehen und ab in die Bank. Mein Arbeitstag beginnt.
„Flieg nach Hawaii“, summt es in meinem Kopf.
„OK…wie soll ich da hinkommen?“, frage ich zurück.
In diesem Augenblick betritt eine ältere Kundin den Schalterraum der Geschäftsstelle. Ich gehe zu ihr an den Tresen und bewundere ihre tiefe Bräune. „Waren Sie im Urlaub, Frau Krautgasser? Sie sind so schön braun.“
Frau Krautgasser sieht mich an und berichtet freudestrahlend von ihrer Reise nach Honolulu.
„Vielleicht wollen wir im Januar auch nach Hawaii fliegen“, sprudelt es plötzlich aus mir raus.
“Oh, dann müssen Sie unbedingt bei dieser Deutschen, welche in Honolulu ein Reisebüro hat, buchen.“
Frau Krautgasser kramt in ihrer Handtasche und überreicht mir einen handgeschriebenen Zettel mit der Adresse. Ich starre auf das kleine Papier.
Michael übernimmt die gesamte Planung unserer Hawaii-Reise. Als sich rausstellt, dass vier Wochen Insel-Hopping von Oahu, über Maui und Big Island nach Kawaii fast 10.000 € für uns beide kosten, geraten wir ins Stocken. „So viel Geld für einen Urlaub…nur um meiner „inneren“ Stimme zu folgen“, bedenke ich. Doch Michael winkt schließlich ab: „Wir fliegen!“
Ich spüre diesen „Flow“…selbst Michael reagiert anders als sonst.
Kawaii:
Unsere letzte Insel vorm Heimflug liegt vor uns. Der Zauber von Oahu, Maui und Big Island schwingt noch in mir…dieses Grün in allen Schattierungen, tosende Wasserfälle, meterhohe Wellen und Lava, diese zähfließende Glut, welche sich wie eine Schlange langsam den Weg zum Meer bahnt, um mit einem funkensprühenden Zischen ins Meer zu tauchen. Momente, welche sich tief in meine Erinnerungen brannten.
Reich an Unmengen von Bildern und Klängen im Gepäck landen wir auf Kawaii. Als mein Fuß den Boden der Insel berührt, steigt eine Vorahnung in mir hoch…hier…hier…ist was für mich…zittere voller freudiger Erwartung.
Eine Stunde später lasse ich langsam den Rucksack von meinen Schultern gleiten. Schmerzend reibe ich meine Schultern, die letzten Stufen hoch zu unserem Quartier waren beschwerlich. Wir sind da.
Ahnungsvoll schaue ich mich um. Das Haus gehört einem Arzt, erkenne ich am Türschild. Ein Praxis-Schild weist um die Ecke. Unser Bed & Breakfast-Quartier für die restlichen sieben Tage.
Wasser läuft meinen Rücken hinunter, sammelt sich am Hosenbund. Michael drückt die Klinke der Haustüre auf und tritt ein. Ich folge langsam und schaue mich um.
Meine Hände….meine Hände… glühen plötzlich wie Feuer…brennen…hebe sie hoch…die Welt bleibt für einen Moment stehen…wie Magneten zieht es meine Hände zusammen…dazwischen ein unendliches Kraftfeld…pure Energie…so stark wie nie zuvor.
Meine Blicke fokussieren die Mitte der Handflächen wie ein Laserstrahl… nichts sichtbar im Außen…nur innen tobt und lodert es immer heißer.
Was ist mit mir? Ich hebe den Kopf und verliere mich in den warmen braunen Augen eines älteren Mannes, eines Hawaiianers. Mein Blick wandert weiter zu dem hellhäutigen Mann an seiner Seite. Beide strahlen mich an:
„You must do this!“
„Jetzt weiß ich, warum wir nach Hawaii fliegen sollten“, höre ich daraufhin mit ruhiger Stimme von Michael.
In meinem Kopf schwirrt es wie in einem Bienenkasten, reglos stehe ich mit leicht erhoben Händen immer noch am gleichen Fleck. „Woher wissen beide Fremden von meinen glühenden Händen?“
Vor mir sehe ich zwei Stufen, welche vom Eingangspodest in den großen Raum führen, in dessen Mitte die beiden Männer abwartend stehen.
„Ich weiß, dass du kommst,“ sagt der Hawaiianer Malu und stellt sich kurz vor. Ihm gehört das Haus und wir sind seine Gäste.
„Ich bin Ed und komme aus Phoenix,“ der hellhäutigere Mann trat auf uns zu.
Michael stellt seinen Rucksack ab, schreitet die Stufen hinab und begrüßt ihn mit Handschlag, dann den Hausherrn. Drei Augenpaare blicken erwartungsvoll zu mir. Man könnte eine Stecknadel fallen hören.
Pure Energie schießt wie Strom durch meine Adern…die Augen weit geöffnet…bum, bum…dröhnt mein Herzschlag in meinen Ohren.
Was geschieht hier nur mit mir! Jedes Zucken meiner Muskeln, fast jede Zelle nehme ich wahr. Tiefer Frieden breitet sich aus, legt sich wie ein Gefühl von „nach Haus’ kommen“ um mein Herz. Ich schüttle mich kurz am ganzen Körper, ignoriere die langsam abklingende Hitze in meinen Händen, während ich sie wieder senke. Zaghaft schreite ich die Stufen hinab…bleibe in sicherem Abstand stehen.
„Hello, I am Maria“, bringe ich mühsam hervor. Ein Lächeln glitt über das Gesicht von Malu, und Ed sieht mich verschmitzt an, als wisse er, wie ich mich fühle.
Michael dreht sich um, holt meinen Rucksack von der Tür, packt noch seinen und folgt Malu zu unserem Gästezimmer. Ich staune, in den wenigen Sätzen war alles gesagt. Jede Minute seit unserer Ankunft… gefühlt wie eine Ewigkeit. Glücklich und voller Vorfreude, was noch kommt, eile ich hinterher.
Von nun an lagen jeden Abend weitere Gäste, ein IT-Student aus San Francisco, ein belgischer Notarzt mit seiner Frau und ein Heiler aus Phoenix wie selbstverständlich im Wohnzimmer auf dem Fußboden.
Malu lehrt mich den Tanz der Hände nach alter hawaiianischer Heilkunst…in Englisch. Obwohl ich kaum Englisch spreche, verstehe ich plötzlich jedes Wort.
In mir ist weder Wollen noch Denken…wachsam achte ich auf jeden Laut…Töne, welche mich langsam ins Schwingen bringen. Mein Körper wiegt sich wie losgelöst von meinem Willen sanft in der Melodie des hawaiianischen Liedes. Meine rechte Hand senkt sich langsam auf den unteren Rücken des Studenten….auf die Stelle, welche mich intuitiv anzieht. Es brennt auf meiner Handfläche…ich sehe Flammenbilder in mir aufsteigen. Ich lege die Linke sanft auf die Herzgegend, spüre die festen Rückenmuskeln des männlichen Köpers vor mir. Warte auf den nächsten Impuls…ES weiß, wie es weitergeht…diese Instanz in mir, welche mich ein- und ausatmen lässt.
Flughafen München:
Die Maschine aus Honolulu ist bereits gelandet. Michael schaut mich fragend an. „Ja…“, nicke ich, schwebe noch zwischen Raum und Zeit. Die Hektik um mich macht mich sprachlos. Alles vorbei…ein Druck sammelt sich hinter meinen Augen, bis ich es zulasse…Nässe auf meinen Wangen.
Ich bin wieder daheim….fast… noch 100 km bis zum Haus. Ein Stück von mir ist noch dort…schmecke den Sand im Wind, rieche die Insel…alles leer…
Michael packt unsere Rucksäcke vom Band, stützt mich leicht mit einer Berührung im Rücken, als spüre er meinen Schmerz. Sanft diktiert er mich aus der Gepäckhalle durch den Flughafen, bleibt plötzlich stehen und kauft eine Zeitung. Schnell blättert er durch das Handelsblatt zu den Aktienkursen.
„Maria… Maria…“, schreit er los, „deine Aktie, deine Aktie ist gestiegen…in nur vier Wochen!“
„Wieviel?“, hellwach reiße ich die Seite aus seiner Hand. „Um 10.000 €…
unser Erspartes…unser Geld ist wieder da!“
„Mut wird belohnt“, klingt es in mir.
© Irmengard Maria Berreiter
Jenny Flynn
von Martin Luxbacher
Es waren nicht viele Leute gekommen. Viellicht lag es am Regen, der schon den ganzen Tag die Welt mit einem trüben grauen Schleier bedeckte und nicht daran dachte aufzuhören, oder es lag an ihrem introvertierten Wesen.
Am Anfang der Reihe ging ihre Mutter, gefolgt von ihren Brüdern. Danach ein paar Kameraden aus ihrer Klasse, die der Familie unbekannt waren. Fast alle hatten einen Schirm, nur Manchen lief die Traufe der Schirme der Anderen in den Kragen.
Vier Personen trugen den leeren Sarg, mehr wären auch nicht nötig gewesen, wenn sie drinnen gelegen wäre. Ja, hier wurde ein leerer Sarg zu Grabe getragen, trotz dem gab es einen Grabstein. Klein und unscheinbar war er, wie passend, aber doch mit einer Inschrift:
Jenny Flynn
2001 – 2017
Die Spur, welche die Kriminalpolizei nach Jennys Verschwinden verfolgte, endete in Panama. An einer schmalen aber tiefen Schlucht, die vor kurzem noch mit einer kleinen Hängebrücke überspanne gewesen war. Genauer endete sie an einem kleinen aber nicht zu übersehenden Klecks ihres Blutes auf halber Höhe in die Schlucht.
Es war gar nicht so lange her, da ging Jenny mit schwerem Herzen und fliegenden Kopf von der Schule nachhause. Sie hätte sofort mit dem Zubereiten des Essens für ihre Mutter und ihren drei Brüdern beginnen sollen, doch sie ging zuerst in ihr Zimmer. Es wäre zu vermuten, dass es ein graues kleines Zimmer war, aber es ist interessant. Bei manchen ist das Zimmer umso bunter, je grauer der Alltag ist. Wer ein muffiges Besenkammerl erwartet hätte, wäre sehr überrascht gewesen. Es ist nämlich nicht klein. Nicht muffig. Und schon gar kein Besenkammerl. Sie hat sich den ganzen Dachboden zu Eigen gemacht. Von einem sauber ausgebauten Dachboden war er weit entfernt, genau genommen war er gar nicht ausgebaut. Aber sauber. Sehr sauber. Und warm war er. Beide Dachflächenfenster waren mit einem rosa Tuch überspannt und tauchten den Innenraum in ein freundliches, angenehmes Licht. Genau so freundlich sah ihr Bett aus, das in einer etwas dunkleren Ecke des Raumes stand. Das Gestell war alt und wackelig, aber dick mit weißer Farbe verhübscht. Wie bei einem Himmelbett war es mit einem rosa – es schien derselbe Stoff wie bei den Fenstern zu sein – Vorhang umrahmt. Auf dem Bett saßen und lagen jede Menge Kuscheltiere. Alle etwas ramponiert aber mit Liebe drapiert. Die schrägen Wände, kaum gedämmt, waren beklebt mit Bildern und Postern. Eines der Poster zeigte Lara Croft bei einem Sprung über eine Schlucht. Auf einem anderen war Supergirl zu sehen. Sie lässt gerade eine Frau mittleren Alters mit dem Hitzestrahl aus ihren Augen in Dampf aufgehen. Die Frau auf dem Poster hatte ursprünglich blondes Haar, es war allerdings mit dunkelbraun übermalt. Die selbst gemalten Bilder zeigten keine starken Frauen. Weite Landschaften in warmen Farben mit wunderbaren und wundersamen Wesen waren zu sehen. Ein Kreuz oder ähnliches war nicht zu sehen. Sie glaubte nicht an Gott. Die Erde ist nur fast eine Kugel, die Bahn der Erde ist nur fast eine Kreisbahn, die Erdachse ist schief, noch dazu ist sie nicht immer gleich schief sondern dreht sich auch noch. Wo man hinsah, nur Schlamperei. Wenn sie in der Schule so arbeiten würde, sie hätte nicht lauter Einser.
Außer dem Bett gab es nur noch einen Schreibtisch, der seinen Namen nur unter Zuhilfenahme von viel Wohlwollen verdiente, und ein klappriges Bücherregal. In eben jenes Bücherregal stellt sie ihre Bücher aus der Schultasche, blickte auf ihre Poster und machte sich auf dem Weg, das Essen zuzubereiten und die Wäsche für ihre Brüder zusammenzulegen. Sie sollte auch das in Rottönen gestaltete Wohnzimmer einer gründlichen Reinigung unterziehen. Für sie war es die Hölle in Rot. Leider konnte sie sich noch so bemühen, sie konnte es ihrer Mutter und ihren Brüdern nicht recht machen. Sie war von den vier Kindern das einzige Mädchen, und wenn es nach ihrer Mutter ging musste sie schon dankbar sein, dass sie ein Gymnasium besuchen durfte. Ihre Brüder waren alle älter als sie und hatten daher auch viel wichtigere Lebensinhalte als sie. Also durfte sie so ziemlich alles machen. Außer etwas für sie selbst.
Und so kam es, dass sie nach dem Essen vor ihrer Mutter stand ihr die Ohren dröhnten.
„Ich bin 15! Ich sollte meiner Mutter auf der Nase herumtanzen und ihr schlaflose Nächte bereiten. Warum gelingt mir das nicht?“, dachte sie. Jenny stand mit schwitzigen Händen da und versuchte mit ihrer inneren Stimme jene der Mutter zu übertönen.
„……nicht sauber………viel zu spät…….das Geschirr……Staub…..“
Leider gelang es ihr nicht vollständig die Mutter auszublenden, aber die Wortfetzen fachten eine neue Geschichte in ihrem Kopf an. Sie würde sie durchleben, die Herausforderungen bestehen und stark und selbstbewusst als Siegerin aus der Geschichte hervorgehen. Natürlich während sie in Realität auf Knien den Küchenboden in eine Spiegelfläche verwandelt.
„…Strafe…..Keller….polieren…“
„Was?“, ihr Denken wurde jäh unterbrochen. „Mein ganzes Leben hier ist eine Strafe, soll ich für die Strafe noch eine Strafe bekommen?“
Nicht nur ihre Hände waren jetzt schweißnass, auch im Inneren ihres Bauches begann es weiß zu glühen. Sie stand kurz vor einer Explosion. Das ganze Haus, nein, die ganze Straße, ja, sie war davon überzeugt, die ganze Stadt würde durch ihre Explosion in Schutt und Asche gelegt. Sie holt tief Luft, machte den Mund auf und sagte: „Ja, Mutter.“ Sie nahm das Staubtuch und ging in den Keller.
Keller war schon in Ordnung – es war halt die Hölle in Grau. Irgendwelchen Schrott zu polieren ist eine gute Grundlage für lebhafte Stories. Im Kopf. Aber diesmal gelang es ihr nicht. Ihr innerer Hochofen ließ sich nicht runterfahren. Ihre Hände zitterten und mit glasigen Augen versuchte sie sich ein Teil nach dem anderen vorzunehmen um es zu polieren.
Plötzlich schrak sie hoch. Irgendetwas stimmte hier nicht. Aber was? Es schien alles so zu sein, wie es sein sollte – wenn es sein soll, dass ein Mädchen in einem Keller Zeug poliert. Wahrscheinlich nur eine Phantasie. Sie bestand ja fast nur noch aus Phantasie.
Und doch. Was passte hier nicht? Sie legte das Tuch weg und ließ dabei einen Silberlöffel klirrend zu Boden fallen. Als sich ihr Schreck und das Klirren gelegt hatten, wusste sie, was nicht stimmte. Langsam stand sie auf und ging mit fast tauben Beinen so leise wie möglich zur Kellertreppe. Angestrengt lauschte sie, aber außer ihrem Herzschlag hörte sich nichts. So stand sie ungefähr stundenlang – ihrem Gefühl nach – und sie hatte Recht. Es fehlten die üblichen Geräusche. Und dann…
Mit einem ohrenbetäubenden lautlosen Knall ging das Licht aus. Finster. Still. Was nun?
Sie war Jenny und Jenny kriecht in ein Eck – am besten mit einem Kuscheltier – schließt die Augen und denkt sich wo anders hin. Aber es war anders. Noch glühte sie. Sie dachte an Lara Croft und setzte ihren Fuß auf den erste Stufe. Diese Ecke, ganz hinten im Keller – schon sehr verlockend. Supergirl! Noch eine Stufe. Und noch eine. Je höher sie stieg, umso mehr gewann die grausliche kalte feuchte Ecke an Attraktivität. Diesmal nicht. Sie öffnete die Kellertüre. Nur einen Spalt breit, zu schmal um etwas zu erkennen. Katniss Everdeen. Etwas breiter. Nichts zu sehen. Nur das Wohnzimmer, getaucht in das Licht der durch die Fenster hereinscheinende Abendsonne. Zu leise, zu ruhig, zu idyllisch. Und da! Ein Schatten huschte vorbei. Sie unterdrückte einen Aufschrei und den Impuls in das so gemütliche Kellereck zu flüchten.
Ein dunkel gekleideter, vollbärtiger, kornettoförimger Mann trat heran und riss mit einem Ruck die Kellertür auf. Da sie die Türschnalle noch immer in der Hand hielt, wurde sie in das Wohnzimmer gezogen. Der Mann packte sie schraubstockgleich am Arm und warf sie in hohem Bogen an die gegenüberliegende Wand. Ein plötzlicher Schmerz fühlte sich an, als würde ihr Kopf in Stücke zerbrechen, dann wurde es dunkel um sie. Sie hörte noch in paar Stimmen, die von irgendeinem uralten Artefakt sprachen, das ihr Vater hier versteckt hätte, und dann ….
Dann öffnete sie ihre Augen. Der Kopf! Es fühlte sich an, als ob ein Presslufthammer versuchen würde, ihr die Schädeldecke zu öffnen. Vielleicht ist es ja auch nur eine Dampfwalze. Oder eine Atombombe. Sie blickt sich um. Sie war nicht mehr zuhause. Es war ein kleines Zimmer in einer Holzhütte. Ein Pfahlbau, wie es schien. Durch die Bretter, die versuchten einen Fußboden zu formen, konnte man einen Meter entfernt Erde erkennen. Auch die Wände waren nicht besser gezimmert und sie konnte Wald erkennen. Viel Wald. Diese Hütte musste auf einem kleinen Berg stehen, denn sie konnte den Wald überblicken. Er schien geradezu nicht enden zu wollen. Geräusche ihr unbekannter Tiere drangen an ihr Ohr. Sie blickte durch die Wand auf der gegenüberliegenden Seite. Es verschlug ihr den Atem. Eine Pyramide. Nicht so ein ägyptischer Protzbau, sondern eine kleine feine Stufenpyramide, wie sie sie aus ihrem Buch über südamerikanische Urvölker kannte. Sie wandte sich der dritten Wand zu. Der Bärtig saß an einem Funkgerät und brüllte es an: „Was sonst? Sie hat mich gesehen! Ich musste sie mitnehmen!“. Und dann noch: „Entsorgen. Ja das geht hier am besten.“
Es formte sich eine Ahnung in ihrem Kopf. Wie ein ferner Gelsenschwarm kam die Erkenntnis auf sie zu. Zuerst nur ein leichtes Summen. Die Pyramide, ihr Vater der Archäologe. Nie daheim, sondern – die erste Gelse der Erkenntnis setzte sich auf ihre Nase und stach zu – sondern hier. Dann kamen noch ein paar Gelsen. Das gesuchte Artefakt, so wichtig, dass dafür sogar getötet würde. Diese Holzhütte inmitten des Regenwaldes, und – der Gelsenschwarm machte sich über sie her – sie sollte getötet werden. Sie kauerte sich in ein Eck, schloss die Augen und versuchte sich in eine Geschichte zu denken. Aber das Geschrei der Papageien verformte sich zu Rufen von Spottdrosseln, und ihr schmerzender Kopf – möglicherweise war es doch keine Atombombe, sondern eine Supernova – brachte immer nur Katniss Everdeen in ihren Fokus. Mit Bogen und Pfeilen bewaffnet kämpfte sie in einem Wald und siegte. Das würde sie auch tun! Im Eck kauernd auf ihre „Entsorgung“ zu warten war schließlich auch nicht abendfüllend. Sie spitzte ihre Ohren, der Bärtige funkte noch immer. Sie konnte ihn nicht verstehen, deshalb lehnte sie sich ein Bisschen in seine Richtung. Es knarrte eine Diele unter ihrer Hand. Das Knarren schien sogar die Supernova zu übertönen. Sie hielt inne und bemerkte, dass sich die knarrende Diele lösen ließ. Sie konnte sie ganz einfach herausnehmen und es entstand eine Lücke im Boden, die gerade groß genug für die dünne Jenny war. Jetzt oder nie. Besser nie. Sie kroch in das Eck zurück, aber Katniss gab keine Ruhe. Der Bärtige funkte noch immer. Die Lücke wartete auf sie und rief: „Komm, ich bin das Tor in die Freiheit!“
„Verdammt noch mal!“, dachte sie. Ja, manchmal flucht sogar Jenny. Sie ließ sich durch die Lücke gleiten und landete unter dem Haus. Wie Spider(wo)man am Boden klebend krabbelte sie unter dem Haus hervor und richtet sich erst hinter dem nächsten Felsen auf. Ein schmaler Pfad tat sich vor ihr auf und sie rannte los. Wie vom wilden Affen gebissen – sie war sich sicher, dass es hier wilde Affen gab – rannte sie bergab. Sie kam zu einer schmalen Schlucht, überspannt durch eine Holzhängebrücke, die sich alle Mühe gab nicht die Holzlatten zu werfen und sich in die Schlucht zu stürzen. High von Adrenalin spurtete sie über die Brücke. „Zur Not hätte ich auch darüber springen können.“, dachte sie im Laufen, während hinter ihr ein Halteseil riss und die Brücke etwas an Balance verlor.
Sie kam in den dichten Wald, rannte noch ein Stück planlos in Richtung …. Grün.
Je länger sie sich durch den Wald bewegte, umso mehr verlor sie ihren Antrieb. Schließlich viel sie vollends in ihre alten Muster. Sie schlich wie in Wurm, fast schon unter der Erde voran. Ängstlich drückte sie sich von Baum zu Baum. Jeder Ruf eines Affen oder eines Papageis ließ sie zusammenfahren. So bewegte sie sich eine Ewigkeit fort, aber so gab es kein Fortkommen. Hinter jedem Fels, hinter jedem Mammutbaum oder unter jedem Stein konnte er lauern, der Bärtige. Oder seine Kameraden. Ganze Legionen von Bärtigen-Kameraden könnten sie verfolgten. Sie verkroch sich unter einer Riesenwurzel, zog ihre Beine an sich, schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Es war klar, sie fand nicht aus dem Dschungel. So würde sie – ach ja, da war ja noch das Knurren aus der Magengegend, das einen Rottweiler vor Neid erblassen hätte lassen – sich selbst „entsorgen“. Wäre sie doch nur ins Kellereck gekrochen, was hätte sie sich alles erspart. Sie war aber da und es war IHR Leben. Sie lebte für sich und nicht für ihre Mutter oder ihre Brüder. Mit Mühe löste sie ihre Zunge von ihrem Gaumen und sprach sich selbst Mut zu. Sie musste ihre Taktik ändern. Sie konnte nur mit Hilfe den Ausgang dieser Hölle in Grün finden. Dazu musste sie an das Funkgerät. Also die Deckung aufgeben, rauf auf den Berg, zurück zur Hütte. Wahrscheinlich ist sie leer und der Bärtige ist auf der Suche nach ihr. Das Knurren befahl ihr den Plan in die Tat umzusetzen. Der Berg war durch die Bäume zu sehen, also los! Sie stand auf und stand mummutbaumgleich da. Also looos! Kein Schritt. Knurr! Sie rannte – schon wieder der beißende wilde Affe – los. Sie blieb erst bei der Schucht stehen. Die Brücke war bestenfalls als „highway to hell“ zu nutzen, aber zum Überqueren schien sie eher ungeeignet zu sein. Langsam Schritt für Schritt, oder darüber laufen? Kurz und schmerzlos. Sie nahm Anlauf und sprang über die Brücke. Wie in Zeitlupe segelte sie über die Schlucht. Die gegenüberliegende Kante kam auf die zu, sie streckte ihre Hände aus, bekam das Seil der Brücke zu fassen und landete knapp vor der Kante auf der schiefen Brücke. Das Seil gab mit einem lauten Schnalzer seinen Geist auf und riss. Jenny wurde nur noch durch den Überlebenswillen gesteuert. Verzweifelt klammerte sie sich mit einer Hand an die Holzlatten, die, eine nach der anderen an der Felswand zerbrachen, mit der anderen an das Seil. Aus voller Kehle schreiend krachte sie an die Wand, schlug mit Hüfte und Kopf hart auf. Alles begann sich zu drehen, sie verlor ihren Griff, und fiel in die unendliche Tiefe der Schlucht. Es war befreiend. Sie ließ los und schwebte schwerelos in die Dunkelheit.
Jenny riss die Augen auf. Sie war unter Wasser, eiskaltes, glasklares, schnell fließendes Wasser. Ihr ging die Luft aus, es soll noch nicht sein. Sie strampelte wie wild, schlug an Felsen, die ihr ein paar schmerzhafte Schürfwunden zufügten und wurde irgendwo an ein paar Kieselsteine angespült. Sie lag auf dem Bauch, die Beine noch im Wasser, das Gesicht in den Kieselsteinen. Ihr wurde dämmrig. Mit letzter Kraft blickte sie auf und sah den Bärtigen auf sich zukommen. Dann wurde es erneut finster um sie.
© Martin Luxbacher
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON MARTIN MUCHA
AUGUST/SEPTEMBER 2016:
Chromatisches Fieber
von Gerald Hutterer
Kapitel 1: Der Wurm
Mit den Augen des Theaters betrachtet, dachte Thomas in einem Moment voll Selbstironie, ist das höchst günstig. Das da, was mir unter der Haut brennt. Er legte die Hand auf seinen Unterbauch. Das da, was mir die Eingeweide zerfrisst. Er tastete mir der rechten Hand suchend über seinen Bauch. Das da, wo ist es, wo ist es nur. Er bohrte den Zeigefinger in seinen Bauchnabel. Da bist Du also. Er bohrte den Nagel so heftig und so tief in den Bauchnabel, dass ein wenig Blut unter dem Finger hervorquoll. Ich werde dich schon noch aufspießen, kleiner Eifersuchtswurm.
Vom Standpunkt des Theaters also höchst brauchbar, höchst verwertbar, höchst dienlich. Er lächelte bitter. Zu wenig Gefühl sagt sie immer, die Frau Regisseurin, zu wenig echte Gefühle, alles nur geschauspielert, statt erlebt. Nun ja, morgen würde er ihr einen Gesualdo da Venosa hinlegen, dem nichts an Tiefe abginge.
Vom Standpunkt des Lebens aus hingegen höchst unangenehm, höchst gefährlich, höchst bedrohlich. So ein Eifersuchtswurm der sich durch den Körper bewegt, infiziert jedes Organ, das er auf seiner Reise trifft. Dort legt er seine Eier ab und dann schlüpfen 1.000 neue kleine Eifersuchtswürmchen. Und jetzt ist er da. Er presste den Nagel noch tiefer in seinen Bauchnabel. Da war er und jetzt ist er schon wieder fort.
Er stand auf und als er das Laken zurückschob, merkte er, dass es feucht, ja geradezu nass war. Echter Schweiß, stellte er zufrieden fest. Echter Schweiß, aus echten Fieberschüben geboren, aus echten Poren getropft, ein echtes Laken getränkt, echte Haare verklebt. Nichts geschauspielert, alles echt herausgeschwitzt. Die Geburt der Tragödie aus den Fieberschüben eines Liebeskranken, dachte er, als er fast zärtlich die Nässe des Lakens zwischen seinen Fingern zerrieb.
Carlo Gesualdo, Prinz von Venosa, ich beginne dich zu verstehen. Du bist Leidenschaft, in allem was du tust bist du Leidenschaft. Wenn Du komponierst, bist du Leidenschaft und wenn du liebst bist du Leidenschaft. Du hast Maria d’Avalos geheiratet, die schönste Frau deiner Zeit, du hast ein Hochzeitsfest mit 120 Gängen veranstaltet. Was für ein prächtiger Verschwender und Genießer bist du doch. Und dann hast du dir den Wurm eingefangen. Wie schnell er sich in dir vermehrt hat, wie rasend er dich gemacht hat! Gut hast du ihn bewirtet, Carlo Gesualdo, mit deinem eigenen Fleisch und Blut. So gehört es sich für einen Renaissancefürsten.
Er roch am Laken, sog den Schweiß ein, berauschte sich einen Moment daran und ließ dann das Laken fallen. Wie das loswerden können, wenn ich es bewahren will, wie das bewahren können, wenn ich es loswerden will. Noch so eine Nacht halte ich nicht durch, körperlich nicht und nervlich nicht. Magdalena ist weg und doch ist sie hier, jeder herausgeschwitzte Schweißtropfen ist eine Spur von Magdalena. In jedem Fieberschub eine Auferstehung von Magdalena.
Magdalena war weg und Magdalena war in ihm, kreiste in seinem Blutsystem, ließ es absacken und anschwellen, ganz wie es ihr beliebte. Magdalena war sein Wurm, wie Maria der Wurm des Fürsten Gesualdo war. Und wie der Maria-Wurm die Blut-Hirn-Schranke des Fürsten durchbrochen hatte, so hatte der Magdalena-Wurm die Blut-Hirn-Schranke von Thomas durchbrochen. Er saß in den Poren, er saß im Gehirn, er hatte sich in den Herzklappen eingenistet.
Thomas strich das Laken endgültig zurück, stand rasch auf, fiel augenblicklich wieder hin und schlug sich die Stirn auf. Er hatte den Eindruck, als würde sich der Wurm nun unter der rechten Schläfe befinden. Mit dem Wurm in mir, dachte er, werde ich den Fürsten Gesualdo nicht spielen, sondern ich werde der Fürst Gesualdo sein.
Kapitel 2: Tod für fünf Stimmen
Gesualdo da Venosa hat Maria d’Avalos erstochen, der Wurm hat ihm keine Wahl gelassen. Und der Wurm hat ihn dazu gebracht, einen ganzen Wald eigenhändig umzuholzen. Der Wurm hat schließlich völlig die Kontrolle über den Fürsten übernommen, hat ihn gezwungen, sich von seinen eigenen Dienern auspeitschen zu lassen und hat ihn schließlich umgebracht.
Ein Grollen ging durch das Zimmer, ein Grollen wie von einem wilden Tier, das vor der Tür steht und Einlass fordert, nein, das einfach eingetreten ist, ohne Klopfen, ohne Fragen, ohne Bitten. Ein Grollen, das den Raum ausfüllt, das zugleich in seinem Kopf und außerhalb davon ist, ein Grollen, als ob die Welt selbst erzürnte, ein Grollen, das ihm als Antwort auf seine Gedankengänge von vorhin vorkam. Ein biblisches Grollen, wie Jahwe ergrimmt war, wenn sein Volk wieder einmal gegen eines seiner Verbote verstoßen hatte, wenn es ausgelassen ums goldene Kalb getanzt war, wenn es sich befreien wollte von seiner strengen Zucht, seinen Worten und Geboten, ein Grollen, so ein Knurren, ein Brüllen, so fürchterlich, dass er in dieser Urgewalt das Blasphemische seiner Gedanken zu erahnen begann.
Er rappelte sich auf, stand benommen da, ein dumpfer Druck auf der Stirn, trockene Kehle, Beklemmung in der Brust oder in der Seele, keine Luft, er brauchte Luft, er öffnete die Tür und da schleuderte Jahwe einen Blitz vom Himmel oder war es Zeus oder…war es Magdalena, die ihn mit Augen voller Zorn anblickte.
Jahwe-Zeus-Magdalena stand da und die Faust des Grollens fuhr aus, fuhr ihm direkt in den Magen, fuhr ihm in den Bauch, packte sein Gedärm, drehte es, verdrehte es und zog daran, bis der Blitz seine Schädeldecke aufsprengte und der gierigen Hand eine neue Angriffsfläche darbot. Magdalenas Hand griff direkt in sein Gehirn, so als ob sie den verbotenen Gedanken suchte, den gotteslästerlichen, den magdalenalästerlichen Gedanken, der sie so zum Zürnen gebracht hatte. Er fühlte die Hand in seinem Gehirn wühlen, suchen, er fühlte, wie sie die Finger in die Schläfenregionen bohrte, wie sie von hinten, von innen die Augäpfel beiseite schob, als ob dort ein Gedankensplitter verborgen wäre, wie sie schließlich den Mandelkern roh herausriss. Um mich in einen Stein zu verwandeln, in einen gefühllosen Stein, dachte er noch, bevor er in die Knie ging und langsam, ganz langsam nach vorne knickte.
Er hörte Himmelsmusik, miserere, erbarme dich…ein Flehen um die Gnade Jahwes, erbarme dich, verschone mich, erbarme dich, verschone mich, miserere mei, Deus! Er hörte Gesualdos Bitte um Vergebung für den grausamen Mord an Maria d’Avalos und es war ihm, als wäre jeder Ton ein feuchter Kuss Magdalenas. Jeder Ton leckte ihm die verwundeten Augäpfel, jeder Ton wusch im das blutverklebte Haar. Vergib mir Maria, erbarme dich meiner, lass mich Dir die Füße waschen, Magdalena. Da war überall Musik und da war überall ihr nasses Haar, spülte sein Gesicht, seinen Körper, überall ihr seidiges, nasses Haar.
Mit einem Ruck öffnete er die Augen. Er lag im Regen. Von Magdalena und Jahwe keine Spur. Sie mussten sich just in dem Moment zurückgezogen haben, als er die Augen geöffnet hatte. Er dachte über die Musik Gesualdos nach. Lange Zeit hatte sie als die eines Dilettanten und Amateurs gegolten. Erst Ende des 19ten/Anfang des 20ten Jahrhunderts beginnt sich das zu ändern, Strawinsky zeigt sich begeistert und sein Urteil trägt wesentlich zur musikalischen Wiederentdeckung Gesualdos bei. Nun erkennt man in seiner Musik unerhörte und kühne chromatische Verläufe, die es vor ihm so nicht gegeben hat und nach ihm erst wieder mit Wagner. Ja, dachte Thomas, er wollte den Wurm mit seiner Musik bannen, aber es war ihm nicht ganz gleungen. Mitten in den schönsten Madrigalen…Schreie des Entsetzens.
Kapitel 3: Zwischen i und o.
Erschöpft erhob er sich, sein Kopf noch immer ein Echoraum für Jahwes Grollen, Magdalenas Zürnen und Gesualdos Madrigale, eine babylonische Sprachverwirrung, der er bemüht lauschte, die er aber nicht enträtseln konnte. Er hörte nur das Grollen Jahwes und das Zürnen Magdalenas. Oder das Zürnen Jahwes und das Grollen Magdalenas und über und zwischen dem Grollen und Zürnen Gesualdo, moro ich sterbe, lasso elend, al mio duolo an meinem Schmerz…wer mir das Leben geben könnte, ach gibt mir den Tod.
Moro, lasso echote es in seinem Kopf, dann nur noch das dunkle vokale Brummen des o…mooooooooro und wie als Antwort das spitze i des chi, wer? Ein kurzes, hartes, spitzes chi, das immer mehr zu einem reinen i wurde. Ooooooo – i – ooooooo – i. Ein Rauschen und eine Unterbrechung. Oder eine Unterbrechung und ein Rauschen. Kurz und lang, das Grundrauschen der Sprache, das Grundrauschen der Welt. Er lauschte, nicht ohne Verzücken, er lauschte der Auflösung von Sinn, Wort, Bedeutung. Nein, das stimmt so nicht, von den Worten, so schien es ihm nun, fiel alles Überflüssige, alles Schmückende, alles Blendende ab, bis nur noch die Klage des o und die Frage des i übrigblieb. Oooooo i oooooo i ooooo i.
Wer leidet? Ich!. Wer fühlt das Elend? – Ich! Wer ist der Schmerz? Ich!, Io. Ich. Io, ich und Io, die Tochter des Flußgottes Inachos, verfolgt von einer Bremse der Hera. Io, ich, verfolgt vom Eifersuchtswurm der Magdalena. Ich bin die Klage, oi und ich bin die Frage io. Ich bin die Frage nach dem Leid und dem Schmerz und dem Elend.
Er berauschte sich an diesem Mantra aus o und i und er sah sich und Magdalena, am Frühstückstisch, am Donaukanal. Im Kaffeehaus…immer schon hatte er nach wenigen Sätzen den Sinn von Magdalenas verloren, nur noch dem Klang ihrer Stimme gelauscht. Nur wenige Minuten hatte er gebraucht, bis er sich in einem Privatkonzert mit Magdalena befand, eine Melodie hörte, wenn sie vom Arbeitsalltag oder ihrer Beziehung sprach, eine verträumte Melodie oder eine beschwingte oder eine traurige.
Für ihn waren das Momente tiefster Übereinstimmung, wenn er ganz in diesem musikalischen Hören aufging, wenn er ganz und gar zu ihrem Resonanzkörper geworden war. Sie hingegen hatte ihm das nie geglaubt, dass er nie aufmerksamer zuhörte, wenn er vom Sinn ihrer Worte nichts mehr mitbekam und nur noch das musikalische Thema verfolgte.
Und doch war es so. Wenn sie mit ihrer Stimme in ihn eindrang und er sie bereitwillig empfing, da war es ihm oft, als könne er sie körperlich spüren, körperlich aufnehmen. Ekstatische Momente, die sie mit Schweigen unterbrechen konnte. Da war es schon angelegt, das Rauschen und die Unterbrechung, die Lust und der Schmerz. Solange Magdalena sprach, gab es keinen Unterschied zwischen ihm und Stimme, Klang, Melodie. Er war ununterscheidbarer Teil dieser Fülle.
Es war Magdalenas Schweigen, das ihn auf sich selbst zurückwarf, nein, das ihn vielmehr erst entstehen ließ. Erst in Magdalenas Schweigen wurde er sich seiner selbst bewusst, als Beunruhigung, als Verstörung, als Frage nach dem Grund des Schweigens.
Kapitel 4: Keine Grenzen
Lieber Thomas,
ich bin ohne große Vorankündigung ausgezogen, weil ich vorgestern noch gar nicht gewusst habe, dass ich am nächsten Tag ausziehen werde. Auf einmal war es mir genug, ich kann und will nicht mehr.
Ich weiß, dass das schwer für dich zu verstehen ist, ich nehme es zumindest an. Weil es auch für mich schwer zu verstehen ist. Weil das Leben an deiner Seite, das klingt jetzt pathetisch, aber ich meine es wirklich so, aufregend und erfüllend war. Ich war wirklich glücklich mit dir. Ich war unglücklich mit dir und ich war glücklich mit dir. Und ich halte es nicht mehr aus mit dir.
Trotzdem Danke für alles. Danke für die verrückten Tage mit dir. Danke, dass du mir gezeigt hast, was Theater wirklich ist und dass du all das mit mir geteilt hast. Ich war gerne mit dir zusammen. Eines stimmt sicher, langweilig war es mit dir nie.
Aber, Thomas, es war auch anstrengend mit Dir, von Anfang an war es anstrengend. Du hast so etwas Zehrendes. Ich habe manchmal das Gefühl, du saugst meine ganze Energie ab und von mir bleibt dann gar nichts mehr übrig. Solange ich von dir so fasziniert war, habe ich das nicht so gespürt.
Und immer habe ich das Gefühl gehabt, mehr deine Spielpartnerin in einem deiner absurden Theaterstücke zu sein, als deine Lebenspartnerin. Sicher hat mir das auch Spaß gemacht, sicher habe ich auch mitgespielt. Aber es hat mich auch ermüdet und erschöpft. Den ganzen Tag Sprachspiele ist einfach zu viel! Ich will spielen, aber ich will mich auch ernsthaft mit jemanden unterhalten können. Und du kannst nicht mehr aufhören. Thomas, du kennst keine Grenzen und das geht so nicht! Nicht mit mir jedenfalls.
Vielleicht findest du ja aus deinem absurden Theater wieder raus, aber, um ehrlich zu sein, ich glaube, du kannst schon längst nicht mehr zwischen dem Theater und der Welt unterscheiden. Du sagst immer, ein Schauspieler muss bis zum Äußersten gehen, ein Schauspieler muss ganz neue Welter erschaffen, ein Schauspieler muss alles zerstören und alles neu erschaffen.
Thomas, im Ernst, ich glaube, du warst immer schon ein bisschen verrückt, aber du wirst immer verrückter. Ich bin zwar auch ein bisschen verrückt oder ich habe mich von dir verrückt machen lassen. Aber ich bin nicht verrückt genug für dich und ich will nicht verrückt werden wie du.
Thomas, ich will einen Mann, mit dem man auch einfach einmal ein Glas Wein beim Sonnenuntergang trinken kann, ohne diese ganzen Heideggereien und Ionesospiele und Beckettdialoge. Und so ein Mann bist du nicht. Es tut mir leid oder es tut mir nicht leid, weil es eine tolle Zeit mit dir war. Aber es geht nicht mehr.
Liebe Grüße
Magdalena
Kein Wort über Clemens, dachte Thomas und in der Sekunde, als er die E-Mail löschte, spürte er den Wurm an tausend Stellen zugleich in seinem Körper.
Kapitel 5: Kümmeltee
Thomas ging an den Strand, setzte sich hin und versuchte, nichts zu denken. Er wollte eine glatte, ruhige Oberfläche sein, wie sie das Meer an manchen Tagen zeigt. Glatt und durchsichtig, wie ein Spiegel, wie ein Stück Glas, wie eine Folie oder Membran. Ja, eine Membran wollte er sein, durchsichtig und durchlässig, ohne Dimension, ohne Eigengewicht oder Eigenfarbe. Wie eine Membran wollte er auf den Dingen liegen, geleert von allen eigenen Empfindungen, gereinigt von allen eigenen Gedanken, erlöst vor allem vom Begehren, vom Wollen.
Er stellte sich vor, er sei ein ins Unendliche aufgezogener Tautropfen, der sich über alle Dinge dieser Welt spannte und stülpte, er würde alle Dinge spüren, ohne etwas zu sein, ja sein Sein würde sich im Bewegt-Werden, Geatmet-Werden, Gewärmt-Werden erschöpfen und erfüllen. Er wäre die Haut der Dinge, die Haut der Welt, nicht in der Welt und doch auf umfassende Weise Teil von ihr. Ohne Dimensionen, ohne Eigenschaften und doch die Summe aller Dimensionen, die Summe aller Eigenschaften. Weniger als ein Schatten. Aber was war weniger als ein Schatten der Dinge? Der Schatten des Seins selbst, dachte er und lächelte, ja er wollte zum Schatten des Seins werden.
Für Sekunden stand das Meer still, wurde Spiegel, Membran, Folie, Haut und für Sekunden legte sich Thomas als Schatten über die Welt, erlebte seinen Moment der bewussten Selbstauflösung, lächelte das Lächeln der Entrückten und Blödsinnigen.
Aber nur für Sekunden. Dann erzitterte das Meer und Thomas, der Seinsschatten der Welt, warf Falten der Erinnerung. Jede kleine Bewegung, noch weit von einer Welle entfernt, eine Erinnerungsspur, jedes Kräuseln und Säuseln, noch mehr Idee als Wirklichkeit, ein Ziehen und Zagen im Gemüt.
Sanft wurde das Meer überwältigt diesen unsichtbaren Kräften unter seiner glatten Oberlfäche, es konnte sich nicht wehren, weil der Angreifer, der Beweger, der unbewegte Beweger unsichtbar und ungreifbar war. Und sanft wurde Thomas überwältigt, von Magdalenas Stimme zuerst, die sich aus der Stille löste, von ihrem Lachen, von ihrem Summen, von ihrem tiefen Atem, wenn sie neben ihm schlief und von ihrem unruhigen Atem, wenn er mit ihr schlief, von ihrem Stöhnen, wenn er in sie eindrang und von ihrem Keuchen und Wimmern, wenn sie eins geworden waren und sich im gleichen Rhythmus bewegten.
Die Welt wurde wieder Klang, Urklang, Urschrei, Urstöhnen, Magdalenas Stöhnen erfüllte das Meer, das Land, der Spiegel zerbrach in hunderttausend kleine Wellen, jede eine Erinnerung, jede ein Begehren, jede eine Körperempfindung, jede eine kleine Lust und ein kleiner Schmerz; der Schatten der Welt löste sich auf.
Erster Tag Improvisationsworkshop. Noch vor Magdalena betrat ihr Lachen den Seminarraum, nahm Platz, sah sich um, war neugierig und schüchtern zugleich. Dann erst, als der Raum schon voll war mit Magdalena, folgte ihr Körper nach. Die Welle lief aus und mit ihr Magdalenas Lachen.
Von weit draußen eine neue Welle. Frühstück im Cafe Dornbacher. Magdalena verlangt Kümmeltee. Kümmeltee?, wiederholen der Ober und Thomas zugleich. Ja, Kümmeltee! Wenn Sie meinen, sagt der Ober achselzuckend und bringt den Tee. Und wie sie dann den ersten Schluck nimmt, wie sie das Gesicht verzieht, wie sie angewidert schreit: Das ist ja Kümmeltee, da dämmert ihm ganz langsam, dass sie nicht Kümmeltee, sondern Grünen Tee bestellt hat.
Zehn neue Wellen und alle flüstern Kümmeltee, so wie sie es sich zugeflüstert hatten, nachdem es ihr Codewort geworden war. Kümmeltee, wenn sie die falschen Karten fürs Konzerthaus bekommen hatten, Kümmeltee, wenn sie die letzte U-Bahn verpasst hatten. Die Wellen begannen, sich zu überlagern. Magdalenas Lachen, Magdalenas Stöhnen, Magdalenas Kümmeltee. Und einmal hatte sie gesagt: Ich habe Grünen Tee bestellt und dich bekommen, du bist auch ein Kümmeltee.
Sie hatten ihre Liebe im Wort Kümmeltee begründet. Verführung, Hingabe, Begehren, Lust, aber auch Zorn, Ärger, Verdruss, Ekel, Angst, Verzweiflung. Und in all diesen Gefühlslagen flüsterten jetzt die Wellen, es gab nicht so viele Teesorten, wie es Möglichkeiten gab, Kümmeltee auszusprechen. Das Meer deklinierte alle Gefühle und es gab unendlich viele Fälle und das Musterwort war Kümmeltee.
Und als das Meer Kümmeltee knirschte, sprühte Gischt auf und in der Gischt das Schneegestöber vom Winter von vor zwei Jahren. Gischt und Schnee und Knirschen und Kümmeltee und das Meer kicherte und es grollte und es hustete und es klagte und es heulte und es winselte und es keuchte und es rülpste und jeder Klang eine neue Erinnerungswelle. Er war der Kümmeltee…aber Clemens war der Grüne Tee.
© Gerald Hutterer
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ALEXANDER PEER
JUNI/JULI 2016:
Weißt Du, dass Hühner auf Bäumen schlafen?
von Corinna Viborg
Der Hahn zur Abendzeit
– es darf noch nicht ganz dunkel sein –
die Hennen um sich scharrt.
Müde des Balzens, Gackerns, Krähens,
müde des Scharrens, Pickens, Eier legens,
ist es an der Zeit, den richtigen Baum
für die Nachtruhe zu finden.
Grün soll er sein, weitastig soll er sein,
die mächtige Baumkrone und das dichte Blätterwerk
vor neugierigen Blicken und Feinden schützen.
Jedes Huhn findet seinen Platz
hoch über der ausgedörrten Erde;
Träume, Ruhe und Geborgenheit stellen sich
dann von alleine und ganz sachte ein.
Schlenderst Du also abends durch
einen silbernen Olivenhain,
gehe behutsam und mit Bedacht,
während Du in dem sternengesäumten Nachtblau
des Himmels versinkst;
es könnten Hühner auf Bäumen schlafen!
© Corinna Viborg
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ANA ZNIDAR
JULI/AUGUST 2015:
Sigá, Sigá!
von Wolfgang Deutner
Friederike Flink war noch nicht gelandet.
Sie schwebte trippelnd über den glatten Steinboden der Ankunftshalle. Vor der Toilette stand noch keine Schlange. Bingo! Sie frischte ihren Teint auf. Am Kofferkarussell nützte sie ihre Zeit optimal. Sie stellte ihre Uhr auf die hiesige Zeit ein und wählte einen lokalen Mobilfunkanbieter aus.
Das Kofferkarussel drehte sich langsam. Friederikes Gedanken überschlugen sich im Vakuum, das das Warten erzeugte. „Exit“ stand auf der Tafel. Ja, raus hier, dachte sie. Nun, angekommen, fühlte sie sich wie auf der Flucht. Endlich spuckte das Karussel ihre Koffer aus. Sie stürzte zum Ausgang. Die Rollen der Koffer ratterten aufgeregt.
Aristid Vissilikos war klein und schmächtig, hatte aber Augen groß wie Äpfel.
„Willkommen!“ Aristids Bassbariton beruhigte Friederike ein wenig.
„Aristid! Ich freue mich, dich zu sehen.“ „Ganz meinerseits! Darf ich?“ Aristid nahm die Koffer und zog los. Die Rollen schienen sich seiner Stimmlage angepasst zu haben. Friederike rang sich ein gemächliches Tempo ab. Aristid war jenseits der 60, ihre Koffer jenseits des Gewichtslimits der Fluggesellschaft.
„Ich gestehe, ich fühle mich noch etwas unorganisiert. Könnten wir nicht einen kleinen Umweg über die Stadt machen? Ich habe dringend einige Kleinigkeiten zu besorgen.“
„Aber meine Liebe! Kleinigkeiten können unmöglich dringlich sein.“
„Aristid!“ Friederike sah den Freund über die Sonnenbrille hinweg an. „Erstens wiedersprichst du mir. Du weißt, das ich das schlecht vertrage. Und zweitens gibt es nichts Dringlicheres als Kleinigkeiten.“
„Meine Liebe.“ Aristid blieb stehen. „Wenn ich also“, und er senkte seine Stimme deutlich, „ergänzen darf: Wir haben Siesta. Alle Geschäfte sind geschlossen. Also Sigá, sigá!“
Friederikes Blick wandte sich ab von Aristid, hin zu den Palmen vor dem Flughafengebäude. Am Hügel dahinter war ein Olivenhain angelegt. Sie hörte die Grillen laut an ihren Hinterbeinen schaben. Die Flut des Meeres traf rauschend auf Land. Friederike atmete tief aus.
„Aristid?“ Der kleine Mann hob langsam seine fleischigen Lider. Freunde nannten ihn Caretta Caretta.
„Aristid. Deine Größe bewahrt mich vor meiner kleinlichen Hast. Ich liebe dich!“ Friederike fiel ihm um den Hals.
„Sigá, sigá!“ Aristid Vassilikos rang nach Luft.
Friederike war angekommen.
© Wolfgang Deutner
Ablandige Strömungen
von Vladimir Rubljow
1
Klaus, der eigentlich Karl heißt und den wir aus Gründen der Diskretion hier Konrad nennen wollen, Konrad also war auf Urlaub in der Sommer-Kunst-Akademie auf der Insel Ithaka.
Wie wir alle, wusste auch Klaus, dass Ithaka vermutlich die Heimatinsel des Odysseus gewesen war und das versetzte ihn von Anfang an in eine abenteuerliche Stimmung, auch wenn er nicht hoffte, so wie Odysseus 20 Jahre von zu Hause weg zu sein. Zehn Jahre, dachte Klaus, dauerte ja die Dienstreise des Odysseus, also die militärische Mission inklusive Belagerung und Zerstörung der stolzen Stadt Troja. Die zweite Hälfte seiner Reise war ja ganz offensichtlich die Vermeidung des raschen Heimkehrens, also im Endeffekt schon eine sehr langsame Heimkehr, eher die Geschichte eines permanenten Einkehrens und Umkehrens und willkommenen Vertrödelns von Zeit an idyllischen Stränden mit diversen sagenhaften magischen Frauen, denen natürlich vom hochbegabten Autor jeweils die Schuld für den verlängerten Aufenthalt zugeschrieben wurde.
Der Ruf des Odysseus wurde auf diese Weise dann für Jahrtausende nicht der eines Rumtreibers, sondern der eines lang verschollenen und dann doch glücklich heimgekehrten Helden. Das hielt ihn aber nicht davon ab, als er dann endlich heimkam, auf die vorgefundene Situation relativ humorlos zu reagieren. Und so zerstreute er den Freundeskreis, der sich in der Zwischenzeit um seine Frau Penelope, ihren Weinkeller und ihre Vorratskammer gebildet hatte, wie einen lästigen Schwarm Fliegen, konkret erledigte er einen nach dem anderen mit tödlichen Pfeilen seines Bogens. Nicht eine Sekunde ging er der Frage nach, ob Penelope ohne diese sogenannten Freier nicht in schwere Depressionen gekippt wäre oder sich zumindest bis zur Verblödung gelangweilt hätte.
Genug von Odysseus, dachte Klaus. Bei mir ist es ohnehin anders. Niemand wartet zu Hause auf mich. Er selbst hingegen wartete jetzt auf seine neue Urlaubsbekanntschaft Elisabeth, genannt Sisi.
2
Sisi klopfte an die Wohnungstür und vom Badezimmer seines Ferienapartments rief Konrad: „Komm doch rein, ich bin gleich fertig!“ Elisabeth betrat sein Zimmer. Im geöffneten Schrank sah sie drei makellose Sommeranzüge hängen. Ein weißer, ein heller Kakianzug und ein dunkelblauer Leinenanzug. Oben in der Hutablage lagen drei Panamahüte mit breiten Krempen in ebendiesen Farben. Elisabeth war erstaunt. Was wollte Konrad mit diesen eleganten Anzügen in dieser durchgeknallten Kunstkommune auf Ithaka, wo doch jeder in abgerissener Freizeitkleidung herumlief, am liebsten halb nackt und mit freier Sicht in den Bauchnabel oder tiefer.
Das ganze Zimmer war spiegelblank sauber und kein Stäubchen war zu sehen. Auf dem kleinen Couchtisch allerdings stand ein riesiger Aschenbecher, in dem neben zahlreichen Zigarettenkippen auch eine brennende Zigarette lag. Dort war auch der Tisch nicht ganz sauber, der Wind hatte die Asche aus dem Aschenbecher geblasen. Karl-Konrad hustete im Badezimmer. „Ich bin gleich da“, rief er heiter und aufgedreht, aber mit heiserer Stimme durch die geschlossene Tür. Elisabeth hatte trotzdem keine Schwierigkeiten, ihn zu verstehen, da er seine Worte in gepflegtem Schönbrunnerdeutsch vernehmen ließ. Im Regal an der Wand fielen Elisabeth zahlreiche Zigarettenstangen auf, Muratti Ambassador, eine noble Schweizer Marke in eleganter weißer Packung mit blau-rot-goldener Beschriftung.
Auf Konrads Nachtkästchen lag eine kleine Bibliothek an Büchern, bunte Suhrkamp Taschenbücher in verschiedenen Farben. Fast unabsichtlich begann Elisabeth die Titel zu lesen. Thomas Bernhard, Korrektur. Thomas Bernhard, Frost. Thomas Bernhard, Stücke eins. Thomas Bernhard, Stücke zwei, las sie auf den Buchrücken. Er las also Thomas Bernhard, noch dazu Theaterstücke. Ein Techniker, der Theaterstücke liest. Das war schon eine Überraschung.
An der Wand des Zimmers standen drei paar Sommerschuhe aufgereiht, farblich passend zu den Farben der Anzüge, weiß, braun, dunkelblau. Elegante Lederschuhe mit sommerlicher Lochung. Daneben lagen ein paar knallgelbe Schwimmflossen und eine Taucherbrille mit einem grellorangen Schnorchel. Diese Dinge schienen irgendwie nicht in die elegante Umgebung zu passen. Das roch nach billigem Kunststoff, irgendwie giftig, wahrscheinlich aus China, dachte Elisabeth und meinte es bis zur Eingangstüre wahrzunehmen.
3
Elisabeth war mit ihrer Tochter Nausikaa nach Ithaka gekommen. Ihre Tochter hieß wirklich so, und wir wollen sie auch um der Wahrheit willen und der guten Ordnung halber nicht anders nennen. Sisi war ja schon immer ein Griechenland-Fan gewesen, wie ja auch die selige Kaiserin gleichen Namens sich gerne auf der nicht weit entfernten ionischen Insel Korfu aufgehalten hatte, und deshalb hatte sie ihrer Tochter, gegen den Widerstand des Kindsvaters, diesen doch etwas ungewöhnlichen Namen gegeben.
Sisi wollte in der Sommeruniversität einige Kurse belegen, eine sinnvolle Auswahl fiel ihr jedoch schwer. Malerei war sicher einer ihrer Schwerpunkte, und wenn man die eine Woche ausnützen wollte, die sie zu bleiben vorhatte, war es wohl am besten, den Vormittagskurs und den Nachmittagskurs in Acrylmalerei zu belegen, und die Mittagspause dazwischen auch gleich weiter zu malen. Elisabeth ließ sich gleich ein Acrylpinselset geben und neun Leinwände auf Vorrat. Pia, die freundliche Verwalterin der Malutensilien, hatte alle Hände voll zu tun, aber sie hatte natürlich schon lange aufgehört, sich über irgendetwas zu wundern. Als Sisi dann bei der Ausgabe der Acrylpinsel war, ließ sie sich auch gleich das Aquarellset geben, irgendwie würde sich wohl auch die Aquarellklasse unterbringen lassen müssen.
Ihr zweiter Schwerpunkt war natürlich das Schreiben, die Schreibklasse war ein Pflichttermin für Elisabeth. Wichtig war für sie auch der interdisziplinäre Aspekt, man müsste, meinte sie, die Fächer schon effektiv miteinander verbinden. Synergien herstellen, dachte Sisi, Synergien, Synergien. Als Karl sie in der Malklasse traf, war sie gerade dabei, lebhaft von der Schreibklasse zu erzählen, und lautstark, mit sich überschlagender Stimme, las sie den Text, den sie in der Schreibklasse verfasst hatte vor, weil sie ihn jetzt in ihr in der Malklasse gemaltes Acrylbild hineingeschrieben – oder hineingemalt? – hatte.
Der Text handelte von einem gewissen Anselm. Immer wieder hatte sie die Formulierung „ebenjener Anselm“ verwendet und ebenjene Formulierung klang noch lange in Karls Ohren nach. So hatten sie sich kennengelernt, beziehungsweise durch die Frage von Elisabeth, die sie relativ direkt an Karl-Klaus-Konrad gerichtet hatte: „Was würden denn Sie machen an meiner Stelle oder darf ich du sagen?“
Das waren, so stellte Konrad sofort präzise für sich fest, eigentlich zwei Fragen und deshalb überlegte er kurz, auf welche Frage er zuerst antworten sollte. „Natürlich dürfen Sie du sagen“, sagte Klaus freundlich lächelnd, „ich bin der“ – auch hier zögerte er etwas – „ich bin der Klaus!“ sagte er dann verbindlich. „Sisi!“ sagte Elisabeth.
“Bitte?“ sagte Konrad. „Sisi!“, sagte Elisabeth. „Sisi, ich heiße Sisi!“ „Hört er vielleicht schlecht?“ dachte sie bei sich. Aber da hellten sich seine Züge schon auf und er sagte: „Freut mich. Was war noch mal die andere Frage?“
„Ach, nein. Nicht so wichtig“, sagte Sissi, „ich wollte nur wissen, was Du an meiner Stelle tun würdest. Ich möchte in so viele Kurse gehen wie möglich. Aber es geht sich mit dem Stundenplan so schlecht aus!“
„Ich gehe nur vormittags in Acrylmalerei und Nachmittag schnorcheln“ sagte Klaus. „Aber das reicht mir. Was mir wirklich wichtig ist, ist das Schnorcheln. Das ist für mich etwas Neues.“
„Das finde ich auch spannend, da möchte ich auch hin, Schildkröten anschauen!“ rief Sisi.
„Das ist ja toll, freut mich, wenn du auch dabei bist. Ich habe mich ja mein Leben lang nur für meinen Beruf bei der Stadt Wien interessiert, und in meiner Freizeit für das Burgtheater, die Burgtheaterschriftsteller, die Burgtheaterregisseure, die Burgtheaterschauspieler und die Burgtheaterarchitekten, und die Malerei, die aber immer leider nur nebenbei möglich war.“
„Und warum jetzt schnorcheln?“ fragte Sisi.
„Ja, dieses Jahr: Sport, Wassersport. Unterwassersport. Ich möchte die Caretta caretta sehen, die Wasserschildkröten, wie du weißt, die es ja nur hier gibt. Für andere ist das vielleicht ganz leicht. Aber wenn man 40 Jahre keine Flossen oder Taucherbrille oder Schnorcheln angelegt hat, ist das ganz schön schwierig, sag ich dir. Ich sage dir, eigentlich fürchte ich mich ein bisschen vor der Tiefe.“
„Aber die Tiefe ist doch hier gar kein Thema, mit einem Schnorchel bist du hier im Normalfall nur 10 cm unter Wasser!“ sagte Elisabeth.
„Aber ich weiß, dass sie da ist!“ rief Konrad aus. „Wer?“ fragte Elisabeth verwundert. „Wer ist da?“ „Die Tiefe“, sagte Klaus. „Die Tiefe, sie ist da!“
„Hast du eigentlich schon meine Tochter kennengelernt?“ fragte Elisabeth unvermittelt. „Sie ist auch im Schnorchelkurs, da werden wir uns alle wiedersehen.“
„Das ist ja wunderbar!“ sagte Klaus. „Da fühle ich mich schon sehr viel wohler“, wobei er darüber nachdachte, dass Sisi nicht mit aller Zeit der Welt diese Kurse im Stundenplan der Sommerkunstuniversität unterbringen würde.
„Meine Tochter heißt übrigens Nausikaa“, sagte Elisabeth, „wirklich, und sie ist sehr sportlich.
„Wie willst du eigentlich alle diese Kurse schaffen?“ fragte Klaus, „das geht sich doch gar nicht aus.“
„Wenn ich die Pausen dazwischen kurz halte und nur noch Tai-Chi in der Früh´ und ein wenig Latin Funk Groove am Abend einbaue, geht sich das alles aus. Nausikaa sagt immer, ‚Mama, du bist doch nicht Hermine Granger, haha, du hast doch keine Zeitmaschine, du musst nicht in alle Kurse gehen’, aber ich sage dir, wenn man Synergien schafft und interdisziplinäre Verbindungen, geht sich das alles aus, auch ohne Zeitmaschine! Synergien! Synergien!“
4
Nachts lag Klaus wach und seine Gedanken kreisten um seine Kindheit. Was seine Mutter nie verstehen wollte, oder erst viel zu spät verstanden hatte, war, dass er kein Musiker war und dass er kein Musikinstrument lernen wollte und auch nie lernen konnte und auch nie lernen würde. Insgesamt hatte er zwei Jahre Sopranblockflöte, ein Jahr Altblockflöte, zwei Jahre Klavier, ein Jahr Gitarre und ein Jahr Klarinette lernen und üben müssen, zum wirklichen „spielen“ hatte es nie gereicht, dachte er, als er nachts wach lag.
Das Üben war jahrelang eine rechte Qual, endlich durfte er dann malen, was für ihn das Richtige war und was ihm noch heute wichtig ist. Er war einfach der unmusikalischste in der Familie, die Eltern sangen in Chören, spielten Klavier, seine ältere Schwester studierte Orgel, seine jüngere Schwester spielte Querflöte, sein Bruder spielte Cello, Gitarre, Klavier und hatte eine eigene Band, für die er Lieder schrieb. Seine Mutter brauchte gut zehn Jahre, bis sie verstand, dass er kein Musiker war. Jahrelang stritt er mit ihr über das leidige „Üben“ des jeweiligen Instruments, wie lange er üben müsse und dass doch die wöchentliche „Stunde“, das war die Unterrichtsstunde bei einer Lehrerin oder einem Lehrer, näher rückte und er schon wieder tagelang, womöglich in der jeweiligen Woche noch überhaupt nicht „geübt“ hatte. Wenn das Wetter schön war, was von seiner Mutter als höherer Befehl interpretiert wurde, „in die Sonne zu gehen“, zwang sie ihn, mit ihr im Garten des Wohnblocks zu sitzen und hinter der Sandkiste Blockflöte zu üben, dies angesichts der anderen Kinder, die unbeschwert und ungehindert ihren selbstgewählten Spielen nachgehen durften. Eines Tages, als er, zusätzlich zu seiner Frustration über das Ausgeschlossensein gegenüber den anderen spielenden Kindern mit seiner Mutter über ein musikalisches Problem in Streit geraten war, schleuderte er die Blockflöte wütend in die Sandkiste. Und wie! Wie einem Bumerang hatte er ihr die richtige Rotation um die eigene Längsachse versetzt, zugleich beschrieb sie eine elegante, leicht gebogene Flugbahn. Von einem leicht erhöhten Punkt über der Sandkiste abgeschossen – sie saßen beim Üben immer auf einem kleinen Hügel hinter der Sandkiste, was wegen der allgemeinen Sichtbarkeit seine Peinlichkeit gegenüber den anderen Kindern noch erhöhte – flog die Flöte knapp über die nähergelegene Sandkisteneinfassung, wirbelte im Landeanflug durch die Rotationsbewegung effektvoll einigen Sand auf, um dann mit einem schönen satten Knall gegen die Innenseite der gegenüberliegenden Sandkisteneinfassung zu krachen und zu Boden zu plumpsen.
Seine Mutter gab ihm dafür eine Ohrfeige, was ihn in diesem speziellen Fall relativ wenig wunderte. Lebenslänglich aber hatte sich aus dieser Zeit, trotz seines Misserfolgs, ihm eingeprägt, dass man, was man begonnen hat, nicht aufgibt; durchhalten; wenn du dich für etwas entschieden hast, machst du das auch zu Ende, auch wenn es keinen Spaß macht; das liegt nur daran, dass du es nicht ernst genug nimmst, du bist eben nicht genug bei der Sache, du nimmst nichts Ernst, du lebst nur nach dem Lustprinzip, bemühst dich nicht genug, du machst nur was dir von selbst zufällt, aber es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen, (nein, nicht mal vom Sandkistenrand), wenn du das jetzt nicht zu Ende machst, dann wirst du es nie erreichen und wirst überhaupt nie irgendetwas erreichen; – die anderen Kinder müssen ja auch nicht üben – die sind aber auch blöd und haben ja auch blöde Eltern, so seine Mutter. Heute hatte er diese Prinzipien wohl weitgehend internalisiert, trug sie mit sich selbst herum, wenn auch nicht in Bezug auf Musikinstrumente, so doch in Bezug auf vieles andere.
Plötzlich drang Musik in sein Ohr und sein Bewusstsein. Im Bett in seinem Ferienapartment hörte er plötzlich Musik, der Sommerhit und Ohrwurm dieses Jahres 2015: “Because I´m happy – clap along if you feel like a room without a roof – clap along if you feel like happiness is the truth.” Eine wirklich tolle Nummer. „Es ist ja nicht so dass ich Musik nicht mag“, dachte Klaus. Da will er gleich mit abheben. Er stand auf, ging auf den Balkon und begann zu der Musik zu tanzen. „I´m a hot air balloon that could go to space”.
Zurück in seinem Bett, mit Blick zur Decke, hallte es in seinem Kopf nach: „A room without a roof“. Langsam hob sich die Decke des Zimmers und er sah den Sternenhimmel über sich, seine neue Bekannte Sisi als Sternenbild, er sah Nausikaa, die er am Abend kurz kennengelernt hatte mit der Galafrisur der Kaiserin Sisi, mit den neun berühmten 10-zackigen Brillantsternen im Haar, und er sah sich selbst, Klaus Karl Konrad, als Sternenbild eines dreifachen K und er wusste nicht, ob er sich entscheiden musste, für einen Namen und für eine Identität und dann überlagerten sich die drei K zu einem strahlenden Sternbild und er sah keine Probleme mehr, „when happiness is the truth“, klang es in seinem Kopf und er fiel in einen tiefen Morgenschlaf.
5
Sie waren mit zwei Kleinbussen an den Schildkrötenstrand gebracht worden, wo die weiblichen Caretta caretta um diese Jahreszeit nächtens an Land gingen, ein Loch gruben, ihre Eier darin ablegten, das Loch wieder zuschaufelten, um dann wieder ins Meer zu verschwinden. Da sie dabei überall Spuren hinterließen, nicht unähnlich denen eines kleinen Raupenfahrzeugs, wussten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der hier tätigen Freiwilligenorganisation genau, wo sich diese Gelege befanden. Sie gruben sie aus, zählten die Eier und markierten die Stelle mit kleinen Holzgestellen, damit sie von den Badetouristen nicht zerstört werden konnten.
Nach diesem morgendlichen Ausflug zu den Schildkrötengelegen waren sie zu einem Frühstück in einer Strandtaverne eingekehrt. Konrad hatte ein reichhaltiges, eher schweres Omelette gegessen und dazu zwei starke italienische Espressi getrunken, die ihn wirklich aufgeweckt hatten. Am Weg zum Meer rauchte er seine vierte Zigarette des Tages. Jetzt sollte es endlich losgehen.
Doch der Schnorchelausflug begann wieder mit einer theoretischen Einleitung, die noch dazu nicht im Wasser, sondern wie schon so oft am heißen Land stattfand. Das war nicht das erste Mal und angesichts der herrschenden Affenhitze waren etliche darüber schon einigermaßen wütend, doch dann ging es wirklich los. Elisabeth war nirgends zu sehen. Sie hatte doch eigentlich ihr Kommen zugesagt. Nausikaa war hingegen gekommen und war schon mit ein paar andern jungen Leuten irgendwo voraus. Ein schwarzer Schopf unter einer Taucherbrille, fröhlich, sportlich, unbeschwert, ein junger Mann rief ihr etwas zu – „Nausi, Nausi!“, was für alle anderen wie „Mausi, Mausi!“ klang. Sie setzten sich an die Spitze der Gruppe. Die Schnorchelinstruktorin hatte sie alle sehr sachlich angewiesen, ihre Taucherbrillen, Schnorcheln und Schwimmflossen anzulegen, und wie sie es gelernt hatten, im Krebsgang Richtung Wasser zu watscheln.
Sie waren schon ungefähr 20 Minuten ablandig, das heißt in Richtung offenes Meer unterwegs, als plötzlich jemand „Caretta, Caretta, Schildkröte, hier bei mir, noch eine!“ rief. Klaus paddelte mit seinen Flossen los, um zu der Stelle zu gelangen, kam aber rasch außer Atem und hatte plötzlich das Gefühl, durch den Schnorchel zu wenig Luft zu bekommen, sein Herz begann rasend zu schlagen. Panik! In diesem Moment wurde ihm auch klar, dass er ca. 500 Meter vom Ufer entfernt war und er sicher eine halbe Stunde brauchen würde, um zurück ans Land zu gelangen. Das Gefühl, in Bauchlage durch den Schnorchel zu wenig Luft zu bekommen, verstärkte sich. Niemand war in der Nähe, dem er vertrauen wollte, dem er von seiner Panik erzählen konnte.
Dumm, dass Elisabeth nicht da war. Wo war sie nun? Überall wollte sie sein, und jetzt, wo er sie wirklich brauchen würde, war sie überhaupt nicht da. Wozu freundet man sich mit jemandem an, wenn man dann allein ist und Panik bekommt? Synergien, dass ich nicht lache, dachte er bei sich. Seine Energie war jedenfalls bald zu Ende, wenn das so weitergehen sollte. Aber was hätte er schon mit Sisi angefangen? Sie mit ihrer Hektik, Betriebsamkeit, Hyperaktivität, sie wäre wohl ohnehin nicht die Richtige, ihn in seiner Panik zu beruhigen.
Er riss sich die Taucherbrille und den Schnorchel vom Gesicht. Ja, das war besser. Ohne das Rohr hatte er gleich wieder mehr Luft. Er würde durchhalten müssen. Ist ja auch lächerlich, dachte er bei sich. Odysseus war zehn Jahre lang immer wieder schiffbrüchig gewesen, und hatte alles überlebt. Er hatte sicherlich keine Panik aufgezogen, wenn Land in Sicht war. Auch er, Klaus-Konrad, würde es irgendwie ans Land schaffen und dann würde er sicherlich, wie Odysseus, irgendeine bezaubernde, magische Frau kennenlernen, keine Kompromisse mehr eingehen, nur noch Dinge tun, die wirklich zu ihm passen, nie wieder gehasste Blockflötenstunden oder Schnorchel-Kurse, vor denen er sich von Anfang an gefürchtet hatte.
„Aber zuerst müsste ich es noch zurück schaffen“, dachte er bei sich, „wirklich schaffen!“, und wieder verstärkte sich die Panik.
Er würde ohne Taucherbrille, ohne Schnorchel und ohne Flossen zurückschwimmen. Die waren jetzt unnötig, soviel Ballast, mit dem er nichts anfangen konnte. So wie seine strengen Anzüge, Hüte und Schuhe, die im Ferienappartement im Schrank auf ihn warteten. Alles überflüssig. Hektisch zog er sich die Flossen von den Füssen. Aber was sollte er jetzt mit diesen für ihn sinnlosen Teilen machen? „Ich lass das hier bei den Fischen“, dachte er bei sich, „obwohl die das wohl am wenigsten brauchen.“ Und schon wollte er alles loslassen. Plötzlich war Nausikaa neben ihm.
6
„Warte, ich helfe dir!“ sagte sie. „Hast du Probleme mit dem Schnorcheln?“
„Ja,“ hustete Klaus durch das Wasser, „und außerdem hab ich eine Scheißpanik!“ Der unschöne Ausdruck tat im gleich leid. „Ich meine, ich bin das einfach nicht gewöhnt mit Schnorchel und Flossen. Ich hätte nicht so weit rausschwimmen dürfen.“
„Cool down. Chill mal, du schaffst das, alles wird gut.“, sagte Nausikaa. Obwohl Klaus nur ahnen konnte, was sie da genau gemeint hatte, beruhigte ihn ihre Stimme sofort unglaublich.
„Das Wichtigste ist, dass du dich beruhigst, gib mir das Schnorchelzeug und alles und du schwimmst ganz ruhig neben mir. Ich bleibe bei dir.“
„Danke“, sagte Klaus kaum hörbar und sehr kleinlaut. Und obwohl die ablandige Strömung, wie das die Schnorchellehrerin genannt hatte, einigermaßen stark war, war alles schon fast wieder gut. Er fühlte sich deutlich besser. Hier schwamm er neben Nausikaa durchs warme Meer, das rettende Land kam langsam näher. Und rettend war vor allem Nausikaa, die zur richtigen Zeit am richtigen Ort war, eine junge Frau voll Empathie und Umsicht, die bemerkt, wenn ein anderer von allen guten Geistern verlassen ist.
7
Am Heimweg, im Kleinbus erschöpft nebeneinander, sahen sie über dem Skopos, dem höchsten Berg der Insel dicken, schwarzen Rauch aufsteigen, von unten rötlich beleuchtet. „Da brennt der Berg“, sagte Nausikaa sachlich. Als sie bei ihren Ferienapartments aus dem Bus ausstiegen, holte Nausikaa ihre Kamera heraus und begann, das Feuer und die beiden Löschflugzeuge zu fotografieren, die im Meer Wasser aufnahmen und über dem Brand abwarfen. Klaus begann, sich neben ihr stumpfsinnig, schwach und sinnlos zu fühlen, wie er sich schon als 12jähriger neben einer Angebeteten gefühlt hatte, wenn er hoffnungslos verliebt war.
„Schau, Klaus, was das für tolle Bilder werden“, sagte Nausikaa und zeigte ihm die Bilder am Display der Spiegelreflexkamera. Folgsam schaute auch er auf das Ding in ihren Händen. „Schau!“ sagte sie, gab aber die Kamera nicht aus der Hand und starrte weiterhin selbst auf die neue Canon Eos. Was sollte er tun? Ihre Köpfe kamen sich immer näher. Ihr schwarzer Schopf landete auf seiner Wange. „´Tschuldigung!“ murmelte er. Verwirrt drehte er sich weg. Er hatte den Geruch von Sommer in der Nase. Salz, Sonne, Sonnencreme, Wärme.
„Klaus“, sagte sie, „schau dir die Bilder an!“ Endlich schaute er in die Kamera, in ihrer angenehmen Nähe. Da war der dunkle Umriss des Berges zu sehen, darüber der schwarzrote dicke Rauch, der ganz anders aussah als irgendeiner, den er bisher gesehen hatte, dunkel, bedrohlich. Darüber der Umriss der beiden Flugzeuge, die wie Zwillingsinsekten unermüdlich zwischen Brand und Meer hin und her schwirrten und brummten, und dann die Wassermassen, die sie über dem Berg fallen ließen, die auf den Bildern aussahen wie Tintenklekse, dunkel und beunruhigend.
„Schau“, sagte Nausikaa, „schau!“ und dabei sah sie ihm gerade und offen in die Augen, „schau, Klaus, das Feuer, da, das Feuer! Es kommt näher!“
8
from: nausikaa@holyday
to: clarissa@home
July, 11th, 2015
hi clarissa,
stell dir vor ich habe einen neuen freund, er ist nicht der jüngste, richtig retro, doppelt so alt wie ich, aber er ist ur süß heute werde ich mit ihm essen gehen
er will mich in ein tolles restaurant einladen, das ein bisschen weiter weg ist, weil wir wollen meiner mama nicht begegnen, die bringt mich sowieso um
aber damit du dich auskennst: mama hat mir einen neuen bekannten vorgestellt, da hab ich mir nicht viel gedacht, er ging ja mit mama aus
dann waren wir beim schnorchelausflug, er und ich, mama war nicht da, hatte sich wieder viel zu viel vorgenommen
zuerst ist er fast abgesoffen, dann hab ich ihn rausgefischt und als wir wieder trocken waren, begann die geschichte, dann war da noch das feuer am berg
ich werde dir die fotos schicken, dann war alles irgendwie magic
ich ließ ihn nicht mehr aus den augen, muss jetzt los, keep you posted
nausi
© Vladimir Rubljow
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ERICA FISCHER
JUNI/JULI 2015:
Grundlagen der Apfelpsychologie.
von Gerald Hutterer
Für jede Abhängigkeit zahlen Sie früher oder später, sagt die Psychologin, sie zahlen mit Geld oder mit Krankheit oder Tod. Das ist die Wurzel der Sucht, die Abhängigkeit. Ich höre ihr gelangweilt zu, während die Worte in meinem Kopf zu tanzen beginnen: abhängig, was hängt da wo ab?
Irgendwer oder irgendwas hängt von irgendwem oder irgendwas anderem ab. Aber was heißt das? Hängt der Apfel nicht auch vom Baum ab? Und wovon sollte er sonst abhängen, wenn nicht von seinem Apfelast? Die Frucht hängt vom Baum und wenn sie ihre Abhängigkeit beendet, fällt sie runter vom Baum und der Apfel liegt dann am Boden und wird faul. Das hat er davon, dass er seine Abhängigkeit beendet hat und runtergefallen ist. Vom Baum.
Mit der Unabhängigkeit, höre ich die Psychologin, geht die Eigenverantwortung einher. Mit dem Aufbau der Eigenverantwortung und der Eigenermächtigung schwindet die Abhängigkeit. Ich verspüre große Lust, sie mit meiner Apfelpsychologie zu konfrontieren. Unabhängigkeit ist in der Apfelpsychologie im Gegensatz zur Suchtpsychologie kein erstrebenswerter Zustand. In der Apfelpsychologie sind die Unabhängigen die Bedauernswertesten…entweder sind sie Fallobst oder im Apfelstrudel.
Während die Psychologin ein Klassifikationsschema der Süchte nach oralen und analen Abhängigkeiten und Fixierungen skizziert, denke ich über die Analogie von Fallobst und gefallenen Mädchen nach. In der Apfelpsychologie ist der Fall klar, sie sind zu früh unabhängig geworden, sind runtergefallen oder runtergeschüttelt oder runtergrüttelt worden. Und dann sind sie gefallen und müssen warten, dass einer kommt und sie aufglaubt.
Aber, schießt mir plötzlich ein, was ist mit den Äpfeln, die nicht und nicht abfallen wollen? Die verschrumpeln am Baum. Das kann man auch nicht wollen. Ein schwacher Punkt in meiner Apfelpsychologie, über den ich mir klarer werden muss.
Der Apfel, der zu lange abhängt, verschrumpelt also. In etwa so, wenn wir zu lange irgendwo abhängen. Offenbar, und das führt die Apfelpsychologie und die Suchtpsychologie am Ende doch wieder zusammen, hängt es davon ab, die richtige Zeitdauer abzuhängen.
Zeit der Reife
Ich nehme die Reife, meine Reife und schüttle sie einmal in der Hand durch, wie einen Satz Würfel. Geschüttelt, gewürfelt, geworfen und aus der Reife wird der Eifer. Mit Eifer reifen, eifrig sein, erwachsen zu werden. Das kann ich von mir nicht behaupten, dass ich da bisher einen besonderen Eifer gezeigt hätte. Ein braves Mitglied der Gesellschaft werden, tun, was alle tun, loben was alle loben, rügen, was alle rügen.
Wess’ Brot ich ess, dess Lied ich sing. Das allerdings schon. Aber mehr als Schauspieler, als Komödiant und Gaukler. So tun als ob. Scheinreife. Wie ein scheinreifer Apfel. Er sieht reif und rot aus, aber wenn du hineinbeißt, ist er sauer und grün. Die Reifen, die sind schmackhaft, die Scheinreifen aber sind frühreif und sauer oder spätreif und matschig. Fällt mir gerade ein.
Aber genug der Apfelpsychologie. Noch einmal geschüttelt und gerüttelt und geworfen und da liegt die Feier. Dass die Feier in der Reife steckt, überrascht mich nicht. Die Zeit der Reife, die Zeit der Ernte, das ist auch die Zeit der Feier. Erntedank. Es ist gesät worden, es ist geerntet worden und nun wird gefeiert. Mit Eifer die Reife feiern, das heißt mit Ernsthaftigkeit und Aufmerksamkeit und überhaupt. Es ist herangereift, es ist geerntet worden, es ist verzehrt worden. Wer es? Er/sie/es. Ich/du/er/sie/es/wir/ihr/sie. Wer sich dem Ritual verweigert, wer sich zu Erntedank nicht verzehren lassen will, bleibt unreif.
Unreif und unbedankt. Weil er sich nicht als Ernte eingebracht hat. Weil er nicht Teil der Ernte war, ist er jetzt nicht Teil des Danks. Sicher ist das eine Verweigerung dem Kreislauf der Dinge gegenüber, dem Gesetz von Blühen, Wachsen, Reifen, Geernet und Verzehrt werden. Der Eifer fehlt, die Feier wird ausgesetzt. Das Selbstportrait muss mit dieser verzögerten, verweigerten Reife beginnen, mit der Verweigerung von Eifer und Feier, weil hier das Selbst sitzt und von hier aus muss nun zurück und nach vorne geschaut werden.
© Gerald Hutterer
Rot und Blau.
von Gerald Hutterer
Und wenn unser aller Leben aus Phasen bestünde, aus blauen und roten und grünen oder sogar rosafarbigen? So wie bei Picasso, wie ich mich zu erinnern glaube, auf eine blaue eine rosafarbige folgt. Wenn eine Farbe alle Ereignisse dieser Phase einfärbte, so dass sie blaustichig wären oder grünstichig oder rosastichig?
Ja, was wäre dann?
Das wäre dann eine Art Erklärung, nicht?
Du meinst, ich würde dann sagen: Ich war von meiner ersten Südamerikareise so begeistert, weil ich sie in meiner roten Phase unternommen habe?
Ja genau, und meine erste Liebesgeschichte war so desaströs, weil ich sie in meine blaue Phase gefallen ist. In der blauen Phase können Liebesgeschichten nur desaströs enden und in der roten Phase glücken Reisen meist.
Blau, bleu, blue…in der blauen Phase wird jedes Lied ein Blues und handelt von Abschied, Trennung, Verlust. Und in deiner roten Phase, wie war das?
Meine rote Phase, das war das Rot der Feuerameisen, ein Pünktchenrot, ein kribbeliges Rot, ein gefährliches Rot. In der roten Phase habe ich mich alles getraut und mich vor nichts gefürchtet und nichts bereut.
Ich glaube, ich habe überhaupt noch nie eine rote Phase gehabt. Ich habe jahre-, nein jahrzehntelang in der blauen Phase gelebt und bin jetzt in die dunkelblaue übergegangen.
Das klingt gar nicht erfreulich.
Ja, jetzt in der dunkelblauen Phase kommt mir meine blaue wie der Inbegriff der Lebendigkeit vor.
Du hast überhaupt keine Vorstellung von meiner roten. Ein Mensch, über dessen Leben blaue und dunkelblaue Filter sitzen, wie kann der das Rot der Feuerameisen sehen?
Aber. Ich würde im Rot der Feuerameisen verbrennen!
Nein, du bist schon erkaltet, bevor du gebrannt hast. Du bist blaue Asche, ohne rote Flamme gewesen zu sein.
Und die Farben nun, wo kommen sie her? Wer färbt uns ein, wer färbt uns um? Oder machen wir das selbst und merken es erst im Nachhinein, wenn die Dinge, nun ja, mit einem Mal eine andere Farbe zu haben schein.
© Gerald Hutterer
Versuch über das Hässliche.
von Gerald Hutterer
Was alles hässlich ist: eine Katze mit Wurmbefall, ein grünlicher Schimmelbelag im Badezimmer, das abgefaulte Blatt des Gummibaums im Büro, ein modriger Keller, ein verwachsener Mensch, eine versalzene Suppe, Fischaugen, die dich aus dem Gesicht deines Gegenübers anstarren, Rußflankerl an einem weißen Sonntagmorgen, Würmer, die sich im Gedärm eines Igels winden, den du auf dem Nachmittagsspaziergang siehst, weiße Maden, egal wo sie sind, egal wann du sie siehst, weiße Maden sind ekelig und immer hässlich. Die verbrannte Haut, die schuppende und nässende Haut ist hässlich und auch die verbrannte Seele, die schuppende und nässende Seele ist hässlich.
Alles das ist hässlich und das heißt, es erweckt den Hass in uns. Das Hässliche ist hassenswert, weil es die Schöpfung verhöhnt. Das Hässliche gemahnt an den Tod, an die Verwesung, es riecht nach Fäulnis, es schmeckt nach Verderbnis, es klingt schrill und tut in den Ohren weh. Und in den Augen. Und in der Nase. Und im Mund. Und überhaupt. Das Hässliche entstellt und gibt den Blick frei auf das, was wir nicht sehen wollen.
Der Hässliche ist der Ausgestoßene und Außenseiter, er braucht sich an keine Regeln halten, weil er selbst ein Regelverstoß ist. Thersistes schielt und hinkt, hat einen spitzen Kopf, eine bucklige Brust und zu allem Überdruss ein vorlautes, höhnendes Maul, ein Lästermaul. Auf der einen Seite die Generalität, Agamemnon, Achill und Odysseus, schöne Männer, schön gewachsen und schöne Worte. Auf der anderen Seite der gemeine Fußsoldat, Thersistes, hässliche Gestalt, hässliche Gedanken, hässliche Taten. Thersistes, der hässlichste der Griechen, der verabscheuungswürdigste der Griechen.
Agamemnon will sich nur aufspielen und fette Beute machen. Was geht uns das an, scheiß auf Troja, fahren wir heim nach Griechenland. Sagt Thersistes. Und Odysseus zieht ihm gleich eins über mit seinem Szepter. Hasserfüllt. Der Hässliche hat den Hass des Listenreichen geweckt. Und liegt jetzt da und flennt wie ein Mädchen. Thersistes, die Memme flennt und die Männer lachen und der Listenreiche setzt zu einer großen Feldherrenrede an und scheiß auf Griechenland wir bleiben vor Troja und kämpfen weiter. Soviel zu Thersistes und Odysseus, soviel zu Helden und Memmen.
Aber. Hat er nicht Recht gehabt, der Hässliche? Der Hässliche und das Hässliche, stehen sie am Ende in einer besonderen Beziehung zur Wahrheit? Ist die Wahrheit am Ende – hässlich?
© Gerald Hutterer
KOPF-STEHEN
von Andrea Liebl
Da kannst du Kopf-stehen, sagt Franz,
hilft es?
Was ist am Kopf stehen,
die Sicht von Unten nach Oben ?
Oder ist es Etwas auf den Kopf stellen
Oder den Kopf auf die Erde stellen?
Hinter den Köpfen zeigt sich Blau,
also ergibt das auf den Kopf stellen ein BLAU.
Rivalen, sind Jene, die?
Zwei, welche?
Da meint Einer, er könne, sei, würde, wollte,
etwa anders, besser sein, tun, zusammenbringen?
Was?
Franz steht am Kopf, steht Kopf.
Sieht er den kleinen roten Punkt am Horizont besser als
Silvia?
Wer entdeckt den Punkt zuerst?
© Andrea Liebl
ROSA KLAR
ROSA STREITEN
von Andrea Liebl
STREIT Antonia DI ist der Name der Besitzerin der Maschine HONDA XY.
Schadensverursacherin: LIEBL Andrea Mag. a
Wirft mittels = chauffierend = mit dem Mittel ihres Fahrzeuges, in den Rückwärtsgang lenkend,
diese Maschine um, auf die linke Seite fällt sie –
PLUMPS – was wird das?
Nachsicht – Bedankung – Organisation.
Abends erfolgt die Information:
Frau Streit und Frau Liebl kennen sich.
Sie kennen sich von einer Begegnung an der Straßenecke, an der das Missgeschick geschah.
Die Frau Streit fährt eine Riesenmaschine und pflegt.
Die Frau Liebl arbeitet an der Straßenecke, pflegt den Ort, aufwändig.
Ein Clash.
Streiten die Zwei? Wollen die streiten, brauchen, müssen die streiten?
Wozu streiten, wenn eh alles klar ist, ROSA KLAR.
Und trotzdem ist ein Bruch passiert.
Wie damit umgehen?
Die KFZ Versicherung wird den Schaden bezahlen.
Frau Streit wünscht Frau Liebl ausdrücklich einen schönen Urlaub.
© Andrea Liebl
SUMM
von Andrea Liebl
SUMM summ summ herum… knistert das Metall der Schraube beim Hineindrehen ins Holz,
die Holzsplitter winden sich –
wollen sie die Schrauben, wollen die nicht?
Saugen die Holzteile der Türe die Schrauben in sich hinein, befestigen sie die Teile des Vorhängschlosses als zu sich gehörig?
Schützen? Was geschieht da? Tür und Vorhängschloß,
am Türrahmen der Bogen.
Die Schrauben können auch ganz leicht herausgedreht werden, was war passiert?
Juhu, wir haben die Schwimmsachen noch!
Freude, Urlaub in wärmere Gegend naht.
Das Kellerabteil war aufgebrochen gewesen, gewaltsam herausgedreht die Metallhalterungen, die Türen offen..
Wie das?
Was fehlt?
Fehlt überhaupt etwas?
Wozu die Tür? Wozu das Schloß?
© Andrea Liebl
ÜBER DEN KÖPFEN
von Andrea Liebl
ÜBER DEN KÖPFEN entfaltet sich leicht –
der finale Absturz?
Ein Band aus Seide ein Baldachin –
das Rettungsprogramm?
Sitzkissen Matratzen Teppiche
die Athener Regierung torpediert
leicht verschiebbare Möbel
© Andrea Liebl
VERBINDEN
von Andrea Liebl
Zweige verbinden.
Die Schatten der Zweige – sie malen
eine fließend fischige Bewegung in die weichen Teile.
Sich einrollend an den Anfang – Enden,
einkuschelnd, wärmend.
Es rutschen die 100.000 Strickmaschen aus den Nadeln,
fügen zusammen zu Gefilden:
voller GELBER Getreide?
GRÜNER Gräser?
Vielen ROSA Rosen und ROTEM Mohn .
Ich schmecke die Düfte:
herb, kratzig die türkis-grünen Felder
am Johanniskraut fühlend das fette Gelb
Damaszener Rosenknospen mutieren zu rotem Mohn.
Hinauf in den Himmel: streng und klar.
SCHWARZ die Erde, die Schwelle die trägt?
Es fühlt sich so warm, einhüllend wohlig an.
Ich roll mich ein, zieh mir die Decke zum Hals zu und
die Füße müssen es auch gut haben.
Da schaut mein Kopf raus und liest auf der Rückseite der Karte –…
Schatten der Zweige verbinden die Textblöcke –
die vielen Namen in der Senkrechten.
Der Ring auf meinem Tisch verbindet die vielen bunten Köpfe der Menschen,
genannt „Klasse Medienkunst“ –
was die alles heute macht? Hat sie noch Gemeinsames in einer Weise?
Der Wind verbläst im Flug die Seiten, verflicht die Zeilen.
© Andrea Liebl
Die Geschichte von den Münzen.
von Edwin Radnitzky
Das war es also: eine Handvoll Münzen, die er achtlos auf den Schreibtisch warf. Das war alles, was sie ihm hinterlassen hatte. Sie, die er bis zuletzt gepflegt und umsorgt, für die er einen beträchtlichen Teil seiner Freizeit geopfert hatte. Und jetzt das: sieben abgegriffene Münzen, darunter je zwei schmutzstarrende Ein- und Zwei-Cent-Stücke. Der blanke Hohn. Wütend fegte er sie vom Tisch, nahm seinen Hut und warf die Tür hinter sich ins Schloss.
Drei Stunden und ebenso viele Biere später kehrte er zurück und ging zu Bett. Im Traum erschien ihm seine Großmutter, die zu Lebzeiten nie den Führerschein besessen hatte, auf einer Harley Davidson, mit der sie, ein gewaltiges Schneebrett mit sich reißend, die Nordwand des Matterhorns herabstob. In einem Wirbel von Schneekristallen hielt sie vor ihm an. Er wollte sie zur Rede stellen; sie lachte nur, nickte ihm zu und brauste davon.
Monate vergingen, sein Ärger war verebbt, der Alltag hatte ihn wieder. Die Münzen, deren sechs er unter diversen Möbelstücken hervorgeklaubt hatte, waren ausgegeben und vergessen. Eine hatte er nicht mehr gefunden, vermutlich war sie in eine der Ritzen zwischen den Landhausdielen in seinem Arbeitszimmer gerutscht, vielleicht hatte sie auch seine Putzfrau weggeworfen. Er vergaß auch sie; das Ganze kümmerte ihn nicht mehr.
Normalerweise würde nun ein Geschehnis folgen, das sein Leben drastisch verändern sollte – das Bekanntwerden des Verschwinden einer unermesslich wertvollen Münze aus einer antiken Sammlung zum Beispiel, ein Großbrand, der sein Haus einäscherte, dramatische Sekunden, in denen er die Münze unversehrt aus der Glut fischen würde – d i e Münze natürlich, die alle Welt fieberhaft gesucht hatte und die ihn zum Multimilliardär machen sollte.
Nichts von alledem geschah. Es ist nämlich eine ganz gewöhnliche Geschichte mit einem ganz gewöhnlichen Ende. Er heiratete, sie waren glücklich, bekamen drei Kinder, wurden alt und verstarben. In seinem Nachlass fanden sich sieben Münzen, darunter je zwei schmutzstarrende Ein- und Zwei-Cent-Münzen.
© Edwin Radnitzky
Im Fjord
von Edwin Radnitzky
Alan war Dorfschullehrer und lebte mit seiner Frau Stine in einem kleinen Haus am Ende des Fjords. Das Dorf lag eine halbe Wegstunde entfernt hinter einem felsdurchsetzten Grasrücken, und jeden Morgen stieg eine dumpfe Unruhe in Alan hoch, wenn er sich der Schule näherte. Sie wuchs an, wenn er vor der Tür zum Klassenzimmer stand, die Klinke niederdrückte, eintrat und seinen Blick über die flachsblonden Haarschöpfe der Kinder schweifen ließ, die ihn stehend begrüßten. Alan war beliebt bei den Kindern, geschätzt auch von den Eltern, die ihn und seine Frau mit Eiern, Brot und Fisch versorgten. Nichts verriet seine Anspannung, auch das Zucken seines rechten Mundwinkels, das alle paar Minuten sein Gesicht zerfurchte, war den Leuten so vertraut, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, es einem inneren Geschehen zuzuordnen. Nicht einmal seine Frau nahm es mehr wahr, wenn er am späten Nachmittag heimkehrte, sie flüchtig umfasste und sich mit einem Krug Beerensaft in die Stube setzte. Lange blieb er dort nie, sprang bald wieder auf und hastete ins Freie, meist um Holz zu spalten, das er von weit her angeliefert bekam und geteilt und gebündelt an die Eltern der flachsblonden Kinder verkaufte. Wenn er danach ins Haus zurückkam, hatte sich das Zucken in seinem Gesicht gelegt; nach nur wenigen Minuten flammte es wieder auf. Stine hatte sich damit abgefunden, dass es ihn nie lange in der Stube hielt, dass er immer wieder hinaus musste, besonders dann, wenn ein Gewitter aufzog, was an späten Sommernachmittagen häufig geschah. Einmal war sie ihm gefolgt, hatte aus der Ferne beobachtet, wie er sich am äußersten Rand der Steilküste niederließ, sich rücklings abstützte und sein Gesicht, seinen ganzen Körper dem herabstürzenden Regen darbot. Im bleichen Schein der Blitze ergab das ein verstörendes Bild, gegen das sich Stine kaum zu schützen wusste in all den Jahren, in denen sie ihn wieder und wieder gefragt hatte und keine Antwort bekam. Wenn er dann, völlig durchnässt, in die Stube trat, hatte sie sich bereits in ihre Kammer zurückgezogen; zusammen lagen sie schon lange nicht mehr. Sie war ihm gefolgt an dieses Ende der Welt, an das er versetzt worden war aus Gründen, die sie nie zur Gänze hatte nachvollziehen können, ihr Beruf als Übersetzerin hatte es erlaubt, und ihre Liebe hatte ihr keine andere Wahl gelassen. Nun, Jahre später, schwiegen sie am Frühstückstisch, an dem sie allmorgendlich zusammentrafen. Ihre Versuche, seine Unruhe zur Sprache zu bringen, wurden immer seltener. Ob es wegen der Kinder sei, die sie nicht bekommen konnten, hatte sie ihn zunehmend verzweifelt gefragt, und jedes Mal hatte er stumm den Kopf geschüttelt, sie aufs Haar geküsst und war hinausgegangen. Warum sie blieb, hätte sie nicht zu sagen vermocht, zu einem Entschluss fehlte ihr wahrscheinlich die Kraft. Alan begann zu malen, das immer gleiche Motiv: ein Gewitterhimmel über dem aufgewühlten Fjord. Seine Kammer war bald voll davon, und wenn das abendliche Unwetter einmal ausblieb, zog er sich dahin zurück, um erst am Morgen wieder aufzutauchen. So lebten sie hin.
Eines Abends kam Alan nicht mehr von der Steilküste zurück. Im Dorf wusste niemand, wo er geblieben war, und als Stine im Wetterleuchten zum Haus zurückkehrte, war die Stube leer.
Sie fanden ihn am nächsten Tag, am Fuß der Klippe. Es war ihm nicht mehr zu helfen.
An seinem Grab versammelte sich das ganze Dorf. Die Kinder sangen ein trauriges Lied, ein flachsblondes Mädchen trat vor und warf einen Strauß Wiesenblumen in die Grube. Als die ersten Erdklumpen fielen, liefen die Kinder davon, um unten am Fjord flache Steine über das Wasser tanzen zu lassen.
© Edwin Radnitzky
Mittag Eins
von Edwin Radnitzky
Ich fragte den Leguan
Ob er mit mir tanzen wolle
Er hob das Augenlid
Und schloss es wieder
© Edwin Radnitzky
Mittag Drei
von Edwin Radnitzky
Sie kummt auf mi zua
Und schaut ma tiaf in de Augn
Anhobn tuat’s nix ois wia an Mauntl
Dea wos se bis duathii täut
Wo’s interessant wean tat
Kumm zuwe, sogt’s, i zag da wos
Und dabei schlogt’s zruck ian Mauntl
Doss ma de Luft wegbleibt
Vua lauta Schaun
Sixta’s? frogts mi und locht mi aun
I siech ois, sog i
Wüsta’s? frogt’s mi, und mia pumpat’s Heaz
Bis auffe untan Hois
I wüü ois, sog i, jetzt gleich
Und waun’s es Letzte is, wos i daschnauf
Des is leiwaund, sogt’s
I hob mi aa scho gfreit
Schau hea, sogt’s, und zeigt auf des Peckerl
Do is’s
Unsa neichs Motorboot
Und mia seifzn olle zwaa
© Edwin Radnitzky
Sinus Eins
von Edwin Radnitzky
Die Uhr zeigte Viertel nach Vier, als er auf dem Pannenstreifen erwacht. Ein Insekt prallt gegen die Windschutzscheibe, taumelt weiter. Drei Fahrstreifen verlieren sich in einer Linkskurve, kehren als graues Band jenseits des Mittelstreifens wieder. Weiße Bogenlampen, verblassend im aufsteigenden Morgenlicht. Ein hoher Sinuston in der Luft. Seine Hüfte schmerzt, eingetrocknetes Blut klebt am Lenkrad, an seiner Hand und im Gesicht der jungen Frau, die auf der Rückbank zusammengesunken ist. Nichts regt sich, bis auf das Bein der Schildkröte, die ihren Panzer auf den Rand des Beifahrersitzes zuschiebt. Er versucht sich zu erinnern. Es gelingt ihm nicht. Minuten verrinnen. Ein leises Dröhnen schwillt an, rast vorbei, nichts zu sehen, es verebbt wieder. Reglose Stille, wie am Meeresgrund, denkt er. Die Schildkröte kippt über den Rand des Sitzes, bleibt auf dem Rücken liegen. Mehr Blut im Fond, als er den Kopf wendet. Er versucht den Motor zu starten, der Schlüssel dreht ins Leere. Müdigkeit überkommt ihn. Die drei Fahrstreifen kriechen auf ihn zu. Er fasst nach der Hand des Mädchens. Sie ist kalt.
Es wäre ohnehin zu spät gewesen.
© Edwin Radnitzky
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ALEXANDER PEER
MAI/JUNI 2015:
Die hinige Puffn
von Harald Jöllinger
Endlich wieder daheim. Wieder daheim beim Werner. Seine Suspendierung ist aufgehoben. Er hat mich schon geölt, mit Spezialöl, keinem billigen Spray. War mit mir am Schiessstand. Leider nur mit Schallschutz, weil’s schon so spät am Abend war. Und das ist halt wie mit den Menschen bei den Kondomen, es geht auch mit, aber ohne ist schöner. Drei Mal auf den Neuner, aber siebzehn Mal auf den Zehner. Das ist bei mir Ehrensache. Wenn ich schiess, dann treff ich, und wenn er noch so zittert, der Werner.
Waren unsere ersten Schüsse seit der Sache mit der Bank damals. Die BAWAG in der Meidlinger Hauptstrasse. Bewaffneter Überfall schon um halb neun in der Früh. Stiller Alarm, der Werner schnappt sich mich und stürmt hinein in die Bank. In Zivil natürlich. Sieht diesen Saukerl von Bankräuber. Der bedroht grad die urfesche Kassiererin. Und anstatt dass der depperte Bankräuber das Messer fallen lässt und aufgibt, zieht er die arme Kassiererin an den Haaren zu sich hin. Die schreit auf. Er sagt: „Gusch, Madel!“ Da bin ich noch cool geblieben. Erst denken, dann schiessen. Aber wie er zum Werner gesagt hat: „Und du, du steckst dei hinige Puffn weg!“, da bin ich explodiert. Weil ich bin eine Smith & Wesson 357 Magnum, Baujahr 79 und keine hinige Puffn. Wie hinig ich bin, hab ich dem schon gezeigt. Die Kugel ist in der Nasenspitze ein- und zwei Millimeter über dem obersten Halswirbel wieder ausgetreten. Da war er hinig, der Bankräuber. Nicht einmal Wiederbelebungsversuche haben sie bei dem gemacht, eh besser, ich mein, wenn das halbe Hirn auf der Computertastatur pickt.
Aber dann die Scherereien, die der Werner deswegen gehabt hat. Die Artikel im profil und im Falter. Die Suspendierung. Mich haben sie mitgenommen. Ballistische Untersuchung. Keine schöne Zeit. Hat auch lang gedauert, ist doch eh alles auf den Überwachungskameras zu sehen gewesen. Ein gewisser Herr Schimek. Zig Vorstrafen, das halbe Leben im Bau gewesen. Muss ihm gefallen haben in Stein an der Donau.
Jetzt ist alles wieder in Ordnung. Der Werner kriegt irgendeinen kleinen Orden vom Innenminister, da darf ich aber nicht mit. Mittlerweile hat sogar das profil umgeschwenkt, hat ein kleines Interview mit der bedrohten Bankangestellten gemacht. Wirklich urfesch, die Frau. Hat dem Werner Blumen geschickt. Der Werner und Blumen. War aber nett gemeint. Als Dankeschön halt. Vielleicht wird das was mit den beiden. Aber eins weiss ich. Auch wenn’s die Urfesche aus der Bank ist, wenn noch einmal wer „hinige Puffn“ zu mir sagt, ich explodier wieder. Mitten ins Gesicht.
© Harald Jöllinger
Ohne Titel
von Thomas Gruber
Es war eine ruhige Nacht. So wie alle Nächte ruhig sind. Nicht im akustischen Sinn, also leise, sondern auch ungestört. Irgendwann beginnen erste Geräusche den Tag anzukündigen, Vögel meistens, zwitschernde. Ich hänge mit den anderen an dem blauen Brett. Ich nehme gewissermaßen eine Ausnahmeposition ein, die der Arrivierten, der Sauberen, Weichen. Es war auch schon anders: die Rattankiste oder – noch viel schlimmer – der Plastikkübel.
Es ist nicht so sehr der Behälter, der dieses unangenehme Gefühl hervorruft, es ist die Gesellschaft: ungepflegte, verkrustete Blumenuntersetzer, Metallteile verklebt, selten bis nie gereinigt. Also da hänge ich, wartend, was der Vormittag so an Neuem oder Gewohntem bringt. Greift die zarte, gepflegte Damenhand nach mir, die, bei der ich mich darauf verlassen kann, wieder sauber an die gleiche Stelle gehängt zu werden? Oder der gummibehandschuhte Rabauke, der mich mit seinem ganzen, beträchtlichen Körpergewicht erst in die klebrige Farbe taucht, um mich danach mit manischen Bewegungen auf der Leinwand auszupressen?
Hätte ich nur was gelernt, ich wäre eine Spachtel geworden.“
© Thomas Gruber
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON MARTIN MUCHA
SEPTEMBER 2014:
Der Ausflug
von Harald Jöllinger
„Du, sag einmal, weißt du, wo wir sind?“
– „Woher soll ich das wissen, ich kenn mich überhaupt nicht aus da.“
„Ich glaub ja, wir sind am Charles-de-Gaulles.“
– „Was, wo?“
„Am Charles-de-Gaulles in Paris, weil er so gross ist.“
– „Ja, kann schon sein, den kenn ich nicht. Wo bist du denn her?“
„Na eh auch aus Wien-Schwechat. Ich hab dich gesehen, wir sind gemeinsam geflogen.“
– „Tschuldigung, ich hab dich gar nicht erkannt. Wo wolltest du hin?“
„Mir persönlich ist es ja wurscht, aber mein Chef wollte nach London-Heathrow. Jetzt steht er dort und ich lieg da herum. Und du?“
– „Na meine Chefin, wie du sagen würdest, also meine Besitzerin wollte zum Meer nach Zakynthos. Urlaub halt.“
„Aha ein Urlaubskoffer bist du also.“
– „Na und, bin ich halt ein Urlaubskoffer, aber ich bin hart, stabil, unzerbrechlich und fast ein bisschen wasserfest. Und praktisch bin ich auch.“
„Ich bin aus echtem Krokodilleder, handgegerbt, handgenäht. Ich war schon auf allen Kontinenten.“
– „Echt? Und was hast du da so drin in dir.“
„Drei Anzüge, Armani natürlich, Hemden, elegante Krawatten und das Protokoll für einen Auftrag über 2 Millionen Pfund. Und du?“
– „Naja, ein paar Bikinis, Kleider, auch ein ganz schönes für den Abend, Schminkzeug, Gelsenstecker.“
„Also Urlaubszeug, nix wichtiges.“
– „Für meine Besitzerin ist ihr Urlaub auch wichtig.“
„Ja, sei nicht gleich eing‘schnappt, das gehört sich nicht für einen Koffer. Aber sag, hast Kondome auch drin in dir?“
– „Ehrlich g‘sagt ja.“
„Brauchst doch nicht rot werden, ist nix dabei. Ich hab doch auch … Aber jedenfalls das Rot steht dir gut. Wird dich nur deine Besitzerin nicht wieder erkennen.“
– „Glaubst, dass ich sie wieder seh? Und glaubst wirklich, dass wir in Paris sind? Ich kenn mich halt so gar nicht aus.“
„Aber ja doch, das wird schon wieder. Und schau, die Tür dort vorn ist offen. Schau‘n wir, dass wir rauskommen. Du hast Rollen, ich hab Rollen, worauf wartest du noch?“
– „Und wenn uns wer erwischt?“
„Was soll uns passieren? Wir sind Koffer, du ein Hartschalenkoffer, ich ein Lederkoffer. Uns kann kein Richter einsperren. Und jetzt sei kein Vollkoffer, da vorne die Tür ist offen, wer weiss, wie lange noch.“
– „OK, ich komm mit. Und du, passt du ein bisserl auf auf mich?“ „Aber ja doch. Und jetzt roll! Ich zeig dir den Eiffelturm.“
© Harald Jöllinger
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ERICA FISCHER
AUGUST/SEPTEMBER 2014:
Ich fliege!
von Martina Podreka
Genug – genug – ich habe genug davon! Warum nicht einfach verlassen – weggehen – weglaufen? Mut haben, keine Angst vor der Angst oder der Einsamkeit!
Ich trage immer noch das Kostüm von meinem letzten Bühnenauftritt; den weiten schwarzen, dreiviertel langen Mantel mit der blutroten Weste darunter, und setze mir den Zylinder, mit dem bunten Papagei darin, auf den Kopf. Der Papagei verhält sich wie immer still, wie er es gewohnt ist von meinen magischen Vorstellungen. Es ist kalt – oder ist es warm? Ich schlage die Tür endgültig hinter mir zu.
Immer geradeaus – immer geradeaus! Die Sonne blendet und ich habe Mühe vorwärts zu stapfen – ist es der Schnee – oder ist es der tiefe feine Sand, der unter meinen Stiefeln quietscht?
Immer geradeaus, nichts verstellt mir den Weg.
Der Wind wirbelt den Schnee auf – oder den feinen Sand? Und verwehrt mir die Sicht.
Wie lange wandere ich jetzt schon? Einen halben Tag? Nur zwei Stunden? Tage?
Langsam legt sich Müdigkeit über mich. Meine Schritte werden zäher. Schleppe ich Bleikugeln hinter mir her? Nein, das kann nicht sein. Woher sollten sie kommen? Etwas lähmt mich, mir scheint, ich kann mich nur noch in Zeitlupe bewegen.
Wieso? Warum? Ich möchte doch weg – nur weg!
Wenn ich die Arme ausbreiten würde, könnte ich mich dann in die Lüfte erheben? Ein Versuch ist es wert. Ich breite meine Arme aus und schwerfällig aber doch erhebe ich mich und fliege – erst mit großer Anstrengung flach über dem Boden, dann höher und höher und leichter und leichter. Ich kann fliegen!! Jetzt endlich entsteht ein Glücksgefühl in mir – wallt auf – weg fällt alle Schwere! Ich fliege höher – immer fleißig mit den Armen schlagend – staunend über blaue Seen, grüne Felder, über Wälder.
Da zieht mich überraschend in meinem Flug etwas in seinen Bann – was ist das dort unter mir? Tonnen liegen schwer im Sand – im Schnee? Ich lasse mich langsam nieder. Halt, nicht so schnell! Es kracht. „Hilfe“! Ich schlage auf – mit dem Kopf auf eine Tonne – warum Tonne?! Benommen vom Fall, blinzele ich, versuche zu erkennen. Tatsächlich sitzt mein sehr bunter Papagei mir gegenüber auf einer Tonne, im Schnee – im feinen, weißen Sand.
„Krah“, macht es – „Krah, krah“ – es durchfährt mich ein Ruck der Angst im Fallen.
Da erwache ich. Gott sei Dank! Ach, Koko, mein alter Papagei fordert sein Frühstück.
Ich taste neben mir auf dem Nachttisch nach meinem Lippenstift – ein für mich wichtiger Tick, dem ich folgen muss und male pedantisch die Form meiner Lippen nach.
© Martina Podreka
Wasser
von Martina Podreka
Die erste Segelstunde findet an Land statt. Knoten lernen, was heißt auf dem Boot rechts, was heißt links und so fort.
Wir Kinder sind zusammen gekommen, weil wir mit unseren Eltern am Zeltplatz wohnten. „Wie beschäftigen wir unsere Kinder?“ fragten sich die ferienreifen Eltern. „Sie sollen segeln lernen, das ist es! Die Kinder sind beschäftigt und von uns abgelenkt, da können wir in Ruhe Karten spielen und ohne das Maulen der Kleinen das kühle Bier genießen.“
Gesagt, getan, da gab es nun die erste Lernstunde. Brav habe ich mit staunend offenem Mund alles verfolgt und versucht aufzunehmen, was uns geboten wurde, imitierte, artig auf einem Brett auf dem Bauch liegend, die „trockenen“ Schwimmbewegungen des Segellehrers. Ich war etwa vier Jahre alt.
Nach langen Übungen an Land, so gegen Abend, wenn die Sonne langsam untergeht, hieß es dann auf einmal: „Alle Kinder zur Abkühlung und Belohnung in den See schwimmen gehen, hinein, hinein.“ Mit freudigem Gebrüll schossen die größeren Buben und Mädchen voran, den langen Holzsteg entlang, und sprangen entweder Kopf über oder als „Bombe“ in das erfrischende Wasser.
Niemand hatte gefragt: „Kannst du schwimmen?“ Mich hatte niemand gefragt! Aber wie von einem übermächtigen Sog angezogen sprang auch ich mit einem Freudenschrei den Kindern nach …
Glu, glu, machte es in meinen Ohren, glu, glu. Es gelang mir trotz des vielen Wassers meine Augen offen zu halten. Warten – warten, glu, glu – Luftblasen – glu, glu. Mein Staunen über die tänzerischen, graziösen Bewegungen der Algen. Glu, glu. Ich verspürte keine Angst.
Bevor ich ganz in meinen Träumen versank, die mich glitzernde Sternchen und Steinchen sehen ließen und unendliche Leichtigkeit fühlen, wurde ich wohl hochgeschwemmt. Es gelang mir, mich am Rand des Holzstegs festzuhalten. Erst warten – die Kinderstimmen weit weg. Ich hatte zu viel Wasser geschluckt, würgte und rang nach Luft. Ich strampelte wie wild mit den Beinen, um nicht gleich wieder unter Wasser zu gehen. Eine Mutter sah mich aus der Ferne, dachte „was für ein fröhliches Kind, was da im Wasser planscht!“ und wendete sich wieder ihrem Kartenspiel zu. Ich hatte nicht die geringste Chance, mich alleine hochzuziehen.
Mein zaghafter Ruf: “Hilfe!“ Dann wieder etwas kreischiger, gurgelnd wegen des vielen Wassers, das ich geschluckt hatte: “Hilfe!“
Niemand hörte mich. Alle Kinder waren schon aus dem Wasser gestiegen, hatten sich ins Gras geworfen, ihre Beine, die Fersen, übermutig in die Luft gestreckt.
Sie konnten mich nicht sehen. Ich wartete, strampelte, hustete, bis sich meine Finger von selbst vom Steg lösten, meine Beine Ruhe gaben und ich endgültig sanft nach unten sank.
© Martina Podreka
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ANA ZNIDAR
JULI 2014:
Die Brüllhähne von Saküntür.
von Vladimir Rubljow
1
Während seines Türkeiaufenthalts an der Sommerhochschule von Saküntür hörte er seltsame Töne, als er in der Hitze der Nacht oft wach lag – Töne, deren seltsame Magie er nicht nachvollziehen konnte. Die Töne kamen nicht aus seinem Kopf, wie zu Hause oft ein schlimmer Tinitus, sondern zweifellos von draußen.
Es war nicht der alte Kühlschrank, es waren auch keine Computer-, Laptop- oder Spielkonsolentöne, keine Mobiltelephon-, Smartphone-, i-Phone-, i-Pod-, oder i-was-weiß-ich-Töne, keine Wii-, Nintendo-, Nintendo-DS-, Playstation One-, Two- oder Three-Töne, die von seinem Sohn Milu oder dessen Freund Kilu verursacht worden wären, nein, sie kamen aus den mondbeschienenen, busch- und baumbestandenen Räumen zwischen den Wohnhäusern des Campus der Sommerhochschule direkt am Meer, zwischen den Häusern Nikür und Levantür, zwischen Artinür und Iöniür, aus den Sträuchern und Bäumen, in denen archaische Naturgeister, Halb- und Ganzgötter, Satyrn, Nymphen und auch ganz normale Urlaubsheldinnen und -helden erwachten.
Auch wenn manche dieser Töne wie verrückt gewordene Alarmanlagen klangen, wie die Konversation ausgeflippter Mitternachtsamseln, waren sie, so wurde versichert, ganz normale, wenn auch seltene Vögel, die hier ihre mittsommernächtliche Sexkomödie vorführten. Abgelöst wurden diese komischen Vögel erst durch den Brüllkampf der unglaublich zahlreich in der Gegend verstreuten Hähne, die er lieber abends in Tontopf und Rotwein, endgültig verstummt, gesehen hätte, die sich aber über 14 Tage frühmorgendlich bester Gesundheit erfreuten und wie heulende Wölfe im Federkleid den untergehenden Mond, die aufgehende Sonne und das rauschende Meer mehrstimmig chorisch ansangen, unterbrochen nur durch die letzte Unterhaltung der aberwitzig lachenden Inselelstern, die sowohl die heimkehrenden Discobesucher, die die ganze Nacht im Lögüs-Clüb oder im Altiüs-Clüb abgezappelt hatten, als auch die ersten Frühaufsteher begrüßten, die zu einer sogenannten Sonnenaufgangswanderung angetreten waren.
Dass manche von der Disco direkt zur Wanderung abgebogen waren, hat er wohl vermutet, wurde ihm aber nie bestätigt.
Nun dachte er daran, als er am Beginn des letzten Winters in seiner Wiener Wohnung das Fenster geöffnet hatte und für ihn überraschend die eiskalte Luft mit dem Geruch von frischem Schnee ins Zimmer geströmt war, und er unten auf der Straße vier Stockwerke tiefer den Fahrer des Billa-Lieferwagens mit der Hebebühne hantieren hörte – und er dachte an das elektronische Warnsignal, das diese erzeugte, ein durchdringendes Geräusch, das jeder Naturmystik entkleidet war.
Wie würde der nächste Winter werden? Wieder ein endloser „Viennese Winter“, der, wie die wunderschöne Jazznummer dieses Namens, die er vor vielen Jahren gehört hatte, unendlich lang und traurig ist?
2
Zögernd kam Jana ins Zimmer. Es war das Zimmer, das sie kannte, und doch auch nicht. Länger als ein halbes Jahr war sie nicht hier gewesen. Jetzt war Andrei in der Küche, machte Tee für sie beide. „Geh doch vor“, hatte er gesagt.
Die Bücher in den beiden weißen hohen Regalen, die links und rechts des Esstischs stehen, hatte er neu geordnet. In der hinteren Ecke hatte er die alten, ledergebundenen, teilweise goldgeprägten Bücher versammelt, die 24 Bände über die Österreichisch-Ungarische Monarchie, die rund um das Jahr 1900 erschienen waren und die er von seinen Großeltern geerbt hatte, fielen ihr auf und auch das Mayr-Konversationslexikon, das ebenso alt war und das sie einst für ihre historischen Recherchen verwendet hatte. Trotzdem hatte sie es, als sie aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen war, nicht mitgenommen und ihn auch nie danach gefragt.
Die DVD´s mit den Spielfilmen – seine Auswahl - die andere Hälfte stand jetzt bei ihr in ihrer neuen eigenen Wohnung. Alles war noch mehr abgenützt, aber neu geordnet und sauber. Nur das alte weiße Ikea-Sofa aus den 80er-Jahren, Grinda, das wurde nicht mehr weiß. Da hatte Milu, ihr gemeinsamer Sohn, zu oft darauf gefrühstückt. Auf der Sitzfläche hatte Andrei ein türkises türkisches Strandtuch ausgebreitet und die erdfarbigen, kratzigen Kelimpölster aufgestellt, die sie immer nur mit der Rückseite nach oben, weil auf diese Weise weicher, verwendet hatte. Auf einem neuen, halbhohen Bücherregal, in dem sie seine Sammlung österreichischer Literatur erkannte, standen und lagen verschiedene Sammelstücke, Mitbringsel von seinen Reisen, eine Kokosnuss in ihrer riesigen Fruchtkapsel, kunsthandwerkliche Stücke oder auch kleine Kunstwerke, aber auch ein phantasievoller Turm aus Legosteinen, den offensichtlich Milu gebaut hatte.
Auf dem großen Esstisch, um den die abgestoßenen, lederbespannten Sesseln standen, lag ein buntes Tischtuch, leuchtend rot, aber auch blau, weiß, braun, schwarz, ein starkes, osmanisches Muster, das sie noch nicht kannte. Er war im Sommer in der Türkei gewesen, sie erinnerte sich an seine Reisepläne.
Was vor allem neu war, war die Harmonie, das war sich in ihrer gemeinsamen Zeit in dieser Wohnung nicht so gut ausgegangen. Über allem, an den hohen Wänden, die von ihm gemalten, bunten Bilder, die sie früher so beeindruckt hatten.
3
Als er die ebenerdige Ferienwohnung betrat, sah er, dass die linke Seite der hölzernen Lamellentür zur Veranda offen stand. Hatte er sie nicht vor dem Weggehen geschlossen? Was war geschehen? Eindrücklich hatte der Vermieter gewarnt: „Ungeklärte Vorkommnisse in der letzten Zeit“, hatte er gesagt, „lassen es angeraten erscheinen, die Fensterläden, besonders im Erdgeschoss geschlossen zu halten!“ Hatte es nun Einbrecher gegeben? Hatten sie etwas mitgenommen? Hatten sie sich durch die von ihm offengelassene Tür eingeschlichen oder hatten sie gar die Balkontür aufgebrochen? Und dann? Überhaupt – was für „ungeklärte Vorkommnisse“? Gab es hier vagabundierende Räuberbanden? Gab es auf Touristenappartements spezialisierte Spezialbanden? Auf dem Nachtkästchen lag friedlich und in aller Ruhe sein Mobiltelefon. Seine Lieblingsbadehose hing vor sich hin trocknend am Garderobehaken. Wer hätte die wohl stehlen wollen? Und dann am Strand anziehen? Er merkte nach und nach, also, tja, es fehlte nichts, aber auch gar nichts. Niemand war dagewesen, niemand war über das Balkongitter geklettert, niemand war eingebrochen, niemand.
Er schloss die Tür und legte sich aufs Bett. Jetzt lag das Zimmer im Halbdunkel und es war kühler als im Freien. Die Gedanken jagten durch seinen Kopf: Wieso hatte er sich so erschrecken lassen? Weil die „Vorkommnisse“ unaufgeklärt waren? Das war nicht erstaunlich, weil ja fast immer alle Ereignisse dieser Art „unaufgeklärt“ bleiben, dachte er. Vielleicht war es nur dieses „unaufgeklärt“ gewesen oder seine Vergesslichkeit oder einfach ein nicht richtig eingehängter Teil dieser Lamellentür, ein dummes, unwichtiges Versehen. Fast alle Vorgänge auf der ganzen Welt und fast die die gesamte Menschheit waren ja unaufgeklärt, dachte er lächelnd, indem er langsam in den Schlaf hinüberdämmerte. Er musste nicht das Zimmer wechseln, nicht abreisen und nicht die Polizei holen. Bloß ein wenig schlafen, dann wäre alles besser.
4
„Wo warst du gestern Abend“, dachte er bei sich, dachte an Jana, „wo warst du, als ich in der Bar des Coffehouse das Halbfinale der Fußball-Weltmeisterschaft gesehen habe?“ Er im Coffehouse, benannt wie die Kiffer-Lokale in Amsterdam, hier aber Familien und Kinder, und no dope. Er mit den beiden Zehnjährigen hier: „Dein Sohn und sein Freund“, denkt er, wenn er an Jana denkt.
Ständig bestellt er frisch gepressten Orangensaft für sie und für sich selbst. Naja, zwischendurch immer wieder mal ein Cola für sie und ein Bier für sich, oder später dann noch ein Bier oder einen Raki.
Die Jungs zwischen Ferien-Fußball-lang-Aufbleib-Euphorie und der lange niedergekämpften Müdigkeit, die sie irgendwann doch niederstreckt. Heute sind sie außer sich wegen dieses schrecklichen Spiels Brasilien gegen Deutschland, das so grausam und anders als alle anderen Spiele verläuft und die Brasilianer verlieren 1:7, in Brasilia; die Kinder weinen fast.
„Aber das interessiert mich ja alles gar nicht so.“ dachte er. Was ihm fehlt, ist Jana. Sie ist nicht da, nicht im Coffeehouse, nicht auf der Insel, zu heiß ist es ihr im Juli in der Türkei, aber, das ist ihm klar, sie wäre ohnehin nicht mitgekommen.
Aber damit Jana doch irgendwie dabei ist, haben sie den Laptop mit und es wird geskypt – sie sieht Milu und Lala war auch dabei und hat ihren Sohn Kilu gesehen. Am einen Ende die Mütter im kalten österreichischen Salzkammergut und hier die beiden Söhne in der Sonne auf der Insel. Die Kinder sagen anfangs wenig, Andrei fühlt sich verantwortlich. Dann wollen die Buben den Müttern den Pool zeigen und der Laptop muss als Kamera an den Poolrand und fast lässt er ihn reinfallen.
Jana fragt dann sehr deutlich wie es ihm hier ginge und ob eh alles in Ordnung sei und wie es ihm ginge und er ja, ja, eh und den einen Künstler kennt er eh schon lang und „die beiden Theaterleute kennst Du sicher und die sind wirklich sehr nett“. Irgendwann musste die Inszenierung enden und er merkt dass sie irritiert war weil er nicht so locker war wie er gern wollte und sonst eigentlich wirklich war.
Das kam daher, dass er das Bild angesehen hatte, das das Skype von den Kindern erzeugte und sie sahen so gebannt aus, weil sie wiederum gebannt auf das Bild der Mütter starrten. Und ja, er fühlte sich für alles verantwortlich.
Später sagte er ihr das dann am guten alten Mobiltelefon, auf dem er angerufen hatte und dann hat sie es erst geglaubt:
„Mach dir um mich keine Sorgen. Hier gibt es einen Baum und wenn du unter dem sitzt, geht dir nichts mehr ab, egal, was du sonst noch tust, oder auch gar nichts, und ich kann dann hier noch malen und sie stellen dir die Leinwände hin und sind dabei noch nett und heiter, ich bin im Paradies und du sitzt am kalten Attersee und frierst!“
Aber, wie man so sagt, und wie es ihm jetzt durch den Kopf geht, sie hat es ja nicht anders gewollt. Ja, er weiß das, und sie weiß es und er weiß, dass sie es weiß und sie weiß, dass er es weiß. Also, was soll´s.
Als er aufgelegt hat, steckt er das Mobiltelefon tief in seine Tasche und bestellt sich ein weiteres Glas und wünscht sich, es sei ein Glas flüssigen Vergessens.
5
Was würde er jetzt besprechen wollen? Sie hasste diese Termine, die er als Besprechung ankündigte, weil es ihm früher meistens darum gegangen war, irgendeine Erkenntnis über ihre Beziehung zu verkünden, letztlich war es dann immer eine Kritik an ihr gewesen, die sie jetzt nicht mehr erwidern wollte, ihm war es danach meist besser gegangen, ihr aber schlechter.
Am Ende hatten sie einfach genug Gründe beisammen gehabt, um sich zu trennen. Da gab es nicht mehr viel zu besprechen. Er hatte sie heute eingeladen, war aber bei der Definition des Gesprächsthemas nicht über Andeutungen hinausgegangen. Bei ihrer Trennung vor sieben Monaten hatten sie sich über alle wichtigen Dinge geeinigt, danach war alles gut angelaufen.
Was würde er heute von ihr wollen – und sagen?
„Möchtest du Kaffee oder Tee?“ hörte sie ihn fragen. Das war leicht zur beantworten. Sie setzten sich auf die beiden ehemals weißen Sofas einander gegenüber und tranken Kräutertee. Alles war voll Milus Bröseln. Heute war Milu bei seinem Freund Momo, das wussten sie beide.
„Also“, begann Andrei, „ich wollte Dir sagen“ – sonst war er nie so schnell zur Sache gekommen, dachte Jana, sonst brauchte er immer stundenlange Einleitungen, musste den heißen Brei umkreisen, musste erklären, warum er beschlossen hatte, etwas zu sagen. Und schon begann er zu stocken.
„Also, nachdem ich es mir lange überlegt habe, es mit vielen besprochen haben, habe ich mir gedacht“ – da waren sie wieder, seine ewigen Reflexionen über die möglichen Gründe für etwaige Schritte. „Also, um es kurz zu machen, ich werde meinen Job kündigen und nur noch Maler sein.“ – „Wieso?“ fragte sie erschrocken, auch, um Zeit zu gewinnen. Und: „Wirst Du oder hast du schon? – gekündigt, meine ich“, stammelte sie hervor.
„Nein“, sagte er, „du weißt doch, ich war auf dieser fantastischen Sommeruniversität in der Türkei und ich hatte diese fantastische Mallehrerin, und sie hat mir jetzt eine große Ausstellung versprochen, außerdem werde ich zwei Monate in der Türkei unterrichten, August und September.“ – „Davon willst du leben?“ entfuhr es ihr. „Ja“, sagte er und war die Ruhe selbst, „das heißt nicht ganz“, ich werde natürlich weniger Geld haben und vielleicht kannst ja du mir aushelfen, wenn es nicht ganz reicht, du verdienst ja nicht schlecht.“ Sie war sprachlos. „Ist das ein schlechter Witz?“- stieß sie hervor. „Are you trying to be funny?“
„Nein also weißt du es ist ja noch gar nichts beschlossen ich hatte ja nur die Idee ich komme jetzt gerade zurück aus diesen zwei Wochen eines komplett anderen Lebens ich mache diesen Job seit mehr als 20 Jahren immer das gleiche 20 Jahre vier Monate und 27 Tage sind es heute“. All das sagte er vollkommen monoton auf. Und doch dann noch: „Ich muss mein Leben ändern!“
Da war es wieder. Sein ewiges, langatmiges Herumreden. „Willst Du mir auch noch die Stunden, Minuten und Sekunden aufzählen, wie lang du schon in deinem blöden Ministerium arbeitest?“ schrie sie. „Ich halte das nicht aus! Und ich soll dir etwas zahlen, damit du deine schlechten Bilder malen kannst!“
„Ich dachte, sie gefallen dir!“ warf er verzweifelt ein.
„Das ist doch ewig her“ – sagte sie, „du hast dich doch seit Jahren nicht weiterentwickelt!“
6
Er war früh in die Klasse „Acrylmalerei“ gekommen, aber hier in der Sommeruniversität kamen überhaupt alle gerne spät, es gab wenig Frühaufsteher. Nachdem er seinem Sohn Milu und dessen Freund Kilu mit den Staffeleien geholfen hatte, sich selbst eine geholt hatte und die aufgespannte Leinwand darauf befestigt hatte, sah er, dass für Wasser, Palette und Pinsel kein Tisch nahe genug stand, auf dem noch Platz gewesen wäre. Er sah sich um. Ja, da drüben zwischen den Olivenbäumen stand noch ein Caféhaustischchen. Langsam ging er darauf zu, er hatte Kopfschmerzen.
Gestern, beim Spiel um den 3. Platz bei der Fußball-Weltmeisterschaft hatte er zu viel Efes-Bier und Raki-Schnaps getrunken, jetzt waren langsame Bewegungen angeraten. Jetzt legte er beide Hände um den Tisch, stützte sich kurz ab, um Kraft zu sammeln.
„Den Tisch wollte ich gerade nehmen“, hörte er hinter sich eine Stimme. Er drehte sich um. Eine Frau um die 30, die er noch nie gesehen hatte, – oder an wen erinnerte sie ihn bloß? – stand vor ihm und strahlte ihn an. Ihre flachsblonden Haare umspielten ihre strahlenden Züge, fielen in dicken Flechten auf ihre Schultern. Sie trug ein helles, langes Sommerkleid und sie sah aus wie die Venus von diesem italienischen Renaissancemaler…wie hieß der jetzt bloß…
„Tut mir leid, ich habe den Tisch eigentlich schon“, brachte er hervor, und obwohl er sich einerseits sofort seine Zunge abbeißen wollte legte er trotzdem sehr belehrend nach: „Außerdem ist das hier die Acrylklasse, und nicht die Aquarellklasse“, denn diese Schaumgeborene, die sich hier trotz des Nebels seiner kapitalen alkoholbedingten Kopfschmerzen vor ihm materialisierte, konnte ja nur aus der Aquarellklasse sein, die Frauen – warum aquarellierten eigentlich immer und überall nur Frauen? – hatten sich heute vor der stechenden Sonne auf den Schattenplatz der Acrylklasse geflüchtet.
„Wenn du mir den Tisch lässt, lade ich dich nachher auf einen Kaffee ein, im Coffeehouse!“ sagte sie und hörte nicht auf zu lächeln und zu strahlen. Sie wollte ihn offensichtlich bestechen, verstand er in seiner schmerzverzerrten Wahrnehmung. Dann sah er wieder ihr einladendes, etwas freches Lächeln. Sekunden vergingen.
Endlich gab er sich einen Ruck: „OK“, sagte er gedehnt, „um 9 Uhr im Coffeehouse, vorher kann ich nicht!“
Ohne sich noch mal umzudrehen, ging er zu einem anderen, unbequemeren Malplatz. Dort legte er zügig los und malte ein durchaus brauchbares Bild.
7
Andrei sackte in sich zusammen. Jana saß ihm immer noch aufrecht gegenüber und starrte auf einen Punkt irgendwo hinter ihm. „Keine Entwicklung“ hatte sie gesagt, und er werde nicht von seinen Bildern leben können…
Was war Ursache, was war Wirkung?
Wenn er nicht bald beginnen würde, was ihm am wichtigsten war auch wirklich ernst und wichtig zu nehmen, würden auch die Ergebnisse immer nur durchschnittlich bleiben.
Der Teufelskreis musste durchbrochen werden. „Ich muss mein Leben ändern“, wiederholte er düster. Der pathetische Satz lag zuerst eine lange Minute in der Luft, durchreiste dann, plötzlich in Bewegung geraten, entlang seiner fragwürdigen Bilder den Raum im Uhrzeigersinn und legte sich dann, zerstäubt wie ein feiner Aschenregen über alle Gegenstände im Raum, auch über die beiden anwesenden Menschen Jana und Andrei. Jedenfalls kam es Andrei so vor.
Die dünne Schicht seiner Unzufriedenheit, seines Wunsches nach Veränderung, lag nun über allem, aber würde das schon etwas ändern? Wie in der Vulkanasche waren in dieser dünnen Schicht zwar die Reste des Feuers seines emotionalen Aufbegehrens enthalten, aber anders als beim Ausbruch des Vulkans Eyjafjallajökull hatte es seine Eruption nicht bis in die Erdatmosphäre geschafft – und entsprechend weniger Wirkung gezeigt.
Obwohl es für ihn nicht einfach zu glauben war, musste er der Wahrheit ins Auge sehen: Seine Bilder gefielen ihr nicht mehr und sie würde ihn nicht dabei unterstützen, nach mehr als 20 Jahren aus seinem ungeliebten Beruf auszusteigen.
„Na wenn schon“, dachte er, „was soll´s, dann eben nicht.“ Dass sie ihn nicht mehr verstand, war ja nichts Neues. Mehr als sich von ihr trennen und ein guter Freund zu sein, konnte er nicht für sie tun. Die Arbeit würde er behalten, vielleicht ein paar Stunden weniger machen und – mehr malen.
Er hatte noch viele Bilder in seinem Kopf, die darauf warteten, gemalt zu werden. Und er hatte die Gewissheit, dass alles gut würde. „Die Lage ist ernst“, wußte er, „aber keineswegs verzweifelt.“
Woher kam die Gewissheit? Die Gewissheit hatte ihn in diesem Moment erreicht, sie war gerade angekommen. Sie war im Meer vor der türkischen Küste geformt worden, hatte einige Wochen über den Wassern des ägäischen Meeres gelegen, irgendwo zwischen Bodrum und Kos, ein kaum sichtbares Nebeltuch, hatte sich geisterhaft mäandrierend über die Wasser fortbewegt, hatte über Meeresarme, Inseln und Halbinseln, später über Festland und Gebirgszüge den Weg nach Nordwesten gesucht, war ins Wiener Becken eingefallen, hatte die Stadtgrenzen Wiens überschritten und war zielsicher durch das offene Fenster hereingeflattert.
8
Es war am letzten Wochenende ihres Aufenthaltes in der Türkei gewesen, als die Sommeruniversität zu einem Bootsausflug eingeladen hatte. Eine Gruppe von rund 12 Menschen, unter ihnen Andrei, Milu und Kilu, gingen an Bord.
Der Steuermann Alexandrü ließ die Jungen die Segel aufziehen und als der Wind nachgelassen hatte warf er den Dieselmotor an, der das Boot scheinbar mühelos antrieb. Das Meer umgab sie spiegelglatt, das Wasser war kristallklar und durchsichtig, beim Blick über die Reling hatte Andrei den Eindruck, das Boot gleite über eine kaum sichtbare Luftschicht, die an Stelle des Wasser den Raum über dem gut sichtbaren Meeresboden einnahm.
Alexandrü ließ Milu an das Steuerruder, das vor dem Jungen riesig aussah. Der Steuermann setzte sich bequem in den Schatten, sagte: „Links, links, immer links!“ und der Junge drehte immer weiter am Steuerruder, das Boot neigte sich leicht und triftete bei guter Fahrt in einen weiten Bogen, glitt über die mittagshelle, blinkende, kristallblaue Fläche und vollendete eine elegante Kreisbewegung.
Hier war es, dass sich für Andrei die Gewissheit formte, dass alles – gut würde.
Er ging wieder an die Reling – und in einer Art von stummen Schrei, den niemand außer ihm, einer gerade auftauchenden Careta careta und dem schweigenden blautürkisgrünem Meer bemerkte, entließ er seine Gewissheit in die Freiheit der glitzernden Weite.
© Vladimir Rubljow
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON GINKA STEINWACHS
AUGUST 2013:
Befreit, befraut, befreut
von Walter Huber
Es war mächtig was los im Siebenzwergehaus,
Es zog den Räubern die Hose aus,
Denn keiner hätte sich gedacht,
Dass in dieser Vollmondnacht<
Rapunzel, vom Turm, wäre ohne zu Fliegen
Über die Treppe heruntergestiegen,
Um durch die Tür das Verließ zu verlassen
Und gleich darauf den Entschluss zu fassen
Dornröschen auch noch zu erwecken,
Um mit ihr die Welt zu entdecken.
Und all dies ohne jeden Prinzen.
Beide mit einem fetten Grinsen.
Ganz ohne Furcht, beglückt und verwegen,
Der Sternschnuppe folgend, der Sonne entgegen.
© Walter Huber
Dumm gelaufen
von Walter Huber
Einmal musste wohl auch ich zum Handkuss kommen, …
Ich war von dem Vorfall noch ganz benommen,
Ein Hufeisen war mir auf den Kopf geknallt
Und das zur Begrüßung im Hexenwald.
Fairplay kann man das wohl sicher nicht nennen,
Ich taumelte noch, wollte eigentlich Pennen.
Was war den hier tatsächlich geschehen?
Ich ergriff mein iPhone, um nachzusehen,
Ob darin die Lösung zu finden sei.
Auf Google findet man ja so allerlei.
Wege beschreibt einem Googlemaps,
Wozu hat man sonst wohl all die Apps?!
Kurz noch den Status auf Facebook gepostet:
„Wurde im Walde soeben getoastet!“
Um dann noch wie ein Vöglein zu Twittern:
„Mein Kopf fühlt sich an, als würd‘ er zersplittern!“
Schnell auch noch all meine E-Mails gecheckt.
Eine Nachricht von Webdating.com entdeckt:
„Geile Russin sucht reichen Mann.“
Wow, die schau ich mir später genauer noch an.
Und all das im grimmigen Hexenwald.
Es war nicht nur finster sondern auch kalt,
Da bekam ich endlich die Hexe zu sehen.
Sie gab mir mit ihrem Blick zu verstehen:
„Dein Handy hilft dir heute nix!
Ich koch dich ein, soviel ist fix.“
Ich denk mir: „Mist, echt dumm gelaufen!
Hätt‘ mir wohl doch sollen ein iPad kaufen.“
© Walter Huber
Eine unvergessliche Nacht
von Walter Huber
Neugierig blickte ich durch das Schlüsselloch, als sich ungeahnte Welten vor mir auftaten. Ein riesiger, golden schimmernder Löwe sprang mit einem mächtigen Satz durch einen lodernden Feuerreifen. Auf ihm saß eine, in eine Burka gehüllte, junge Frau, die durch eine gewaltige Kelle Seifenblasen in den Nachthimmel blies.
Wer war diese atemberaubende Frau, die mich mit ihrer Anmut und Sinnlichkeit zum Erben brachte, obgleich ich nur ihre funkelnden Augen durch einen schmalen Spalt in ihrem wallenden schwarzen Kleid erspähen konnte?
Da geschah das Unfassbare. Der Schweif des Löwen hatte Feuer gefangen, welches nun auch die wehenden Zipfel der Burka erfasste.
Nein!!!! Schrie ich in meiner Verzweiflung aus meinem Versteck hervor. Doch noch ehe ich etwas weiteres tun konnte dröhnte und donnerte es vom Himmel. Es war das legendäre geflügelte Uboot „Stussy“, das in Manier eines professionellen Löschflugzeuges durch die Arena raste und einen gewaltigen Schwall Wasser auf den Löwen und seine Lady platschen ließ. Das Wasser spritzte durch die Manege und eine riesige Welle erfasste auch mein Schlüsselloch, sodass ich unweigerlich zurückweichen musste. Noch völlig fassungslos bebend wischte ich mir das Wasser aus den Augen.
Als ich noch einmal durch das Schlüsselloch blickte war nichts als Dunkelheit zu sehen. Es war vorbei.
Noch heute, 20 Jahre danach, denke ich an dieses Ereignis, als wäre es gestern gewesen.
© Walter Huber
Zu früh gefreut
von Walter Huber
Captain Hook lehnte ganz cool
In seinem Designerschaukelstuhl.
Und weil er unendlich viel Zeit übrig hatte
Mampfte er Berge von Zuckerwatte.
Sein Bauch war bald zum Bersten voll,
Ja er fand das Leben toll.
Das freute auch das Krokodil,
Es hielt von der Kunst des Mästens sehr viel
Und lauerte schon, begierig und keck,
Hinten im Schilf, in seinem Versteck.
Der Captain lag wie ein Sack so faul,
Dem Kroko tropfte der Saft aus dem Maul
Und gleich schon, da hätte es losgeschmatzt,
Da ist der gute Hook zerplatzt.
© Walter Huber
TEXTE AUS DER SCHREIBWERKSTATT VON ANA ZNIDAR
JULI 2013:
Detroit, Michigan – Love Letters from an Alien
von Geertje Tutschka
Prolog
Auf Wiedersehen – meine Liebe!
Verzeih, dass ich nicht da bin. Wie gern hätte ich Dich umarmt.
Aber ich bin nicht gut im Verabschieden. Und nun muss ich all meinen Mut zusammen nehmen für diesen letzten Schritt…
Ich danke Dir für alles, vor allem für den Regenbogen.
Auf ein Wiedersehen in D –
Eddie
`Sie hat es getan! Sie hat es wirklich getan!`
Kerstin Neumann hatte die Zeilen hastig überflogen, ungläubig erst. Doch nun las sie sie noch einmal, sorgfältig, Wort für Wort, um sie zu verstehen, zu begreifen. Dann ließ sie das Papier langsam sinken und sah aus dem Fenster.
`Ja. Es stimmte. Es gab keinen Zweifel mehr.` Kerstin lächelte.
Und sie erinnerte sich:
***
„Wir ziehen nach Detroit, Frau Hagenkötter!“ –
„Das tut mir aber leid, Frau Neumann!“
Kerstin Neumann blinzelte. Sie hasste dieses Mitleid. Mitleid war nicht willkommen. Es weckte die Angst, die sie sorgfältig weggeschlossen hatte. Ein kalter Luftzug st